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Die Engel des Waldes: Seidensifakas

Der Seidensifaka (Propithecus candidus) ist einer der schönsten und speziellsten Lemuren Madagaskar, aber auch einer der seltensten. Nur noch knapp 250 geschlechtsreife Seidensifakas gibt es auf Madagaskar, sonst kommen sie an keinem Ort der Welt vor. Zum Vergleich: Vom durch die Bank weg als schützenswert angesehenen Tiger gibt es allein in Asien noch rund 3000 bis 5000 ausgewachsene Exemplare, und dazu noch ist der Schutz dieser Tiere bedeutend besser aufgestellt.

Seidensifaka
Seidensifaka in Marojejy

Erstmals beschrieben wurden Seidensifakas im Jahr 1871 von Alfred Grandidier, einem französischen Zoologen, der die Tiere in der Bucht von Antongil beobachtet hatte. Seidensifakas erreichen aufgerichtet eine Größe von 93 bis 105 cm bei einem Gewicht von 5 bis 6,5 kg. Sie haben langes, weißes Fell, das manchmal mit silbernen Abzeichen auf dem Kopf, Rücken und den Gliedmaßen versehen ist. Das Gesicht sowie Hand- und Fußflächen sind unbehaart, die Haut an diesen Stellen ist schwarz. Bei vielen älteren Tieren wird die schwarze Pigmentierung mit der Zeit weniger, und sie bekommen rosa Gesichter und Hände. Wegen ihres weißen Fells, den schönen orangefarbigen Augen und der schnellen, unglaublich leicht wirkenden Fortbewegungsweise durch die hohen Bäume haben Seidensifakas in Madagaskar den Spitznamen „Engel des Waldes“ bekommen. Der madagassische Begriff Simpona ist dagegen der einheimische Name der Tiere.

Seidensifakas sind wie die meisten Lemuren sehr soziale Tiere, die in variablen Gruppen von zwei bis neun Tieren leben. Es gibt sowohl Gruppen, die aus einer einzigen Familie bestehen, als auch Zusammenschlüsse von mehreren Paaren und deren Nachwuchs. Auch einzelne Männchen mit mehreren Weibchen wurden schon beschrieben. Leittier ist stets ein Weibchen. Die Tiere kommunizieren untereinander mit verschiedenen Lauten, sieben davon sind aktuell bekannt. Die namensgebenden „shee-fak“-Rufe dienen wie die sehr oft zu hörenden mum- und hum-Rufe dazu, den Kontakt innerhalb der Gruppe zu halten. Fauchende „zzuss“-Rufe sollen die anderen Tiere vor Beutegreifern oder anderen Stressfaktoren warnen, werdenn aber auch nach Streiten zwischen Gruppenmitgliedern ausgetauscht. Streichen große Vögel über die Baumwipfel, brüllen Seidensifakas zur Warnung laut durch den Wald. Geht ein Sifaka der Gruppe verloren, signalisieren die Tiere sich mit einem Heulen den Verlust und versuchen, das fehlende Gruppenmitglied wiederzufinden. Außerdem gibt es ein sogenanntes Plauderquieken, das als Zeichen von Unterwürfigkeit dient. Erstaunlicherweise existiert sogar eine Art Schnurren, das meist bei der direkten Begegnung mit Menschen ausgestoßen wird und vermutlich eine Form von möglicher Bedrohung wiedergibt. Trotz den speziellen Rufen für Bussarde und andere große Vögel, ist bisher der einzige definitiv beobachtete Fressfeind der Seidensifakas die Fossa.

Seidensifakas
Junge Seidensifakas im Spiel

Eine Gruppe Sifakas bewegt sich am Tag durchschnittlich 700 m weit und rund 500 Höhenmeter springend und kletternd durch die Bäume, und nutzt dabei ein angestammtes Gebiet mit einer Größe von rund 0,34 bis 0,47 km² im Nordosten Madagaskars. Der Lebensraum der Seidensifakas ist insgesamt sehr klein, auch wenn die exakten Grenzen ihrer Verbreitung noch nicht geklärt sind. Er reicht entlang eines schmalen Streifen Regenwaldes, das von Maroantsetra und dem Marojejy-Gebirge bis nach Andapa reicht. Als nördliche Verbreitungsgrenze wird zur Zeit das Tsaratanana-Gebirge, als südliche der Fluss Antainambalana (gehört zu Makira) gesehen. Die Tiere bewohnen dabei aber nicht das ganze Gebiet, sondern leben auf kleine, zersplitterte Fragmente von Regenwald auf Höhen von 700 bis 1875 m verteilt. Sie leben in sehr feuchtem, warmen Klima, die Region zählt zu den niederschlagreichsten Madagaskars.

Der typische Tag eines Seidensifakas beginnt mit der Dämmerung – sollte es morgens regnen, bleiben die Tiere einfach länger in ihren Schlafpositionen. Nach und nach beginnen die Familienmitglieder, sich aufzumachen, um nach Fressbarem zu suchen. Über drei Viertel ihrer täglichen Rationen bestehen aus Samen und Früchten, ab und zu greifen sie auch zu Blüten. Dabei verwenden sie eine sehr große Vielfalt an Grünem, über 70 verschiedene Futterpflanzen wurden bereits ausgemacht. Nur sehr selten stehen Rinden und Erde ergänzend auf dem Speiseplan. Neben der Futtersuche ist die zeitintensivste Tagebeschäftigung eines Seidensifakas das Ruhen und Schlafen im Blätterdach des Waldes – es macht bis zur Hälfte des Tages aus. Sozialverhalten ist ebenfalls ein wichtiger Bestandteils des Lebens. Sie „lausen“ einander oder spielen, wobei sie gerne auch auf den Boden hinunterklettern. Seidensifakas haben einen stetigen Tagesrhythmus, der nur selten von ungewohnten Ereignissen durchbrochen wird.

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Älteres Tier

Ein solches ist die Paarung, die nur einmal im Jahr zwischen November und Januar stattfindet, also von Beginn bis Mitte der Regenzeit. Es wird angenommen, dass die Weibchen jeweils an nur einem einzigen Tag im Jahr erfolgreich begattet werden können. Die Jungen kommen sechs Monate später, in der nur geringfügig weniger regenreichen „Trockenzeit“, im Juni und Juli, zur Welt. Pro Sifaka-Weibchen wird in der Regel höchstens alle zwei Jahre ein einziges Junges geboren. Der kleine Seidensifaka bleibt zunächst einige Zeit am Bauch der Mutter, bis er sich später auf ihren Rücken traut und auf diese Weise durch die Bäume getragen wird. Die Babys haben jedoch nicht nur die eigene Mutter als Bezugsperson, sondern werden auch vom Rest der Gruppe betreut, bespielt und getragen.

Männliche Seidensifakas haben oft einen großen, braunen Fleck auf der Brust. Er entsteht durch Duftdrüsen, die die Männchen zur Markierung ihres Territoriums nutzen. Sie setzen immer wieder Duftmarkierungen an Bäume, in deren Rinde sie zuvor mit einem Zahnkamm (eine spezielle Einrichtung an den unteren Schneidezähnen) sie vorher Furchen geritzt haben. Oft überdecken sie dabei Duftmarken, die vorher von Weibchen gesetzt wurden. Aber nicht nur die Männchen nutzen Duftmarken zur Kommunikation, auch die Weibchen setzen Genitaldrüsen ein, in dem sie ihren Po an Bäumen reiben. Es gibt sogar regelrechte „Totembäume“, die von den Furchen und Geruchsmarken der Seidensifakas übersät sind.

Doch die Engel des Waldes sind sehr stark bedroht. Sie gehören zu den drei seltensten Lemuren-Arten Madagaskars und zu den 25 seltensten Primatenspezies weltweit. Sie werden in keinem Zoo der Welt gehalten. Auf der roten Liste gefährdeter Tierarten werden Seidensifakas seit Jahrzehnten als critically endangered geführt, also als vom Aussterben bedroht.

Marojejy-Gebirge
Das Marojejy-Gebirge, Lebensraum der Seidensifakas

Die Schutzbemühungen für diese Lemuren stecken auf Madagaskar trotzdem weiterhin noch in den Kinderschuhen. Zu den letzten Rückzugsgebieten der Seidensifakas zählen das Spezialreservat Anjanaharibe-Süd, der benachbarte Marojejy Nationalpark sowie vereinzelte, kleinere Gebiete um Manandriana, Makira und Betaolana. Aber es werden immer größere Teile auch offiziell geschützter Waldbereiche zerstört, brandgerodet für Reisfelder, umgegraben für den Bergbau oder zum Schlag wertvoller Tropenhölzer oder schlicht Brennholz missbraucht. Seltener werden die Lemuren wegen ihres Fleisches gejagt, bei einer derart winzigen Population zählt jedoch jedes Individuum. Ein Großteil des aktuell verfügbaren Wissens über die Engel des Waldes gründet auf den mehr als 14 Monate dauernden Studien von Dr. Erik Patel von der Duke University in North Carolina, der die Seidensifakas ausgiebig beobachtete und beschrieb.

Wer die letzten Seidensifakas dieser Erde erleben möchte, der sollte sich so bald wie möglich auf den Weg nach Madagaskar machen. Wer einige Tage im Marojejy Nationalpark verbringt und die richtigen Guides hat, kann dort mit ein wenig Glück den faszinierenden Engeln des Waldes begegnen und gleichzeitig den Menschen vor Ort zeigen, dass der Schutz selbst Geld einbringen kann. Die Zeit drängt – wer weiß, wie lange es noch Seidensifakas geben wird?

Lesens- und Sehenswertes zum Thema:

    • Natural World: Madagascar, lemurs and spies
      Tuppence Stone | Großbritannien 2011-12 | Dokumentation | 30 min
    • Angels of the forest: Silky sifaka lemurs of MadagascarSharon Pieczenik | USA 2010 | Dokumentation | 45 min

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