Fleisch fressende Pflanzen auf Madagaskar? Ja, die gibt es! Zwei Kannenpflanzen (Nepenthes madagascariensis und Nepenthes masoalensis) sind sogar ausschließlich auf der großen Insel heimisch. Man findet sie in offenem, sonnigem Gelände auf feuchten Sandböden entlang der Ostküste Madagaskars. Zum Norden hin kommen sie bis zur Bucht von Antongil vor und Richtung Süden bis nach Tolagnaro (französisch Fort Dauphin).
Meist finden sich größere Bestände nah am Ufer oder zumindest nicht weit von Wasser entfernt – wo eine Nepenthes steht, gibt es meist eine ganze Menge. Hochland und Berge mögen die Kannnepflanzen nicht, und man kann sie deshalb nicht über 400 m entdecken. Oft wachsen sie in der Gesellschaft von Schraubenpalmen (Pandanus ssp.) und dem Baum der Reisenden (Ravenala madagascariensis). Die letzteren beiden sind bevorzugt in durch Brandrodung stark gezeichneten Gegenden verbreitet.
Bis heute ist insgesamt vergleichsweise wenig über die madagassischen Kannenpflanzen bekannt. Erst 1977 wurden sie überhaupt vom Schweizer Biologielehrer Dr. Rudolf Schmid-Hollinger beschrieben. Zwar hatte der französische Gouverneur Etienne de Flacourt schon 1661 eine Kannenpflanze in seinem Buch über Madagaskar erwähnt, doch sie nicht als neue Art beschrieben.
Den Namen verdanken die Kannenpflanzen ihren speziell ausgebildeten Blattenden, die wirklich wie kleine Kännchen aussehen. An besonders langen Blättern sind die Kannen eher trichterförmig und vom Blatt abgewendet, an kurzen, niedrig über dem Boden hängenden Blättern dagegen sind die Kannen bauchig und wenden sich ihrer Blattranke zu. Man nennt diese beiden unterschiedlichen Kannenformen „Kletterkanne“ und „Bodenkanne“. Bei der in Masoala heimischen Art (N. masoalensis) sind die Kannen eher zylinderförmig, wodurch man sie – neben dem Fundort – gut von der zweiten auf Madagaskar vorkommenden Art (N. madagascariensis) unterscheiden kann.
Genau diese Blattenden sind es auch, die die Pflanze zum Fleischfresser machen: Innerhalb der Kannen befinden sich kleine Drüsen, die eine klebrige Flüssigkeit produzieren. Die Flüssigkeit sammelt sich am Boden der Kanne zu einem kleinen See und wird ab und zu von Regen verdünnt. Damit die Kännchen nicht überlaufen oder zuviel Regen hinein gerät, wird jede Kanne von einem kleinen Deckel geschützt. Um nun Insekten anzulocken, bedient sich die Pflanzen mehrerer Tricks: Zum einen leuchten die Kannen rot und gelb, genau abgestimmt auf das Sehvermögen von Insekten, zum anderen produzieren sie Nektar, der sich direkt am Kannenrand befindet. Dazu kommt ein Duft aus Alkaloiden und ätherischen Ölen, der Insekten aus weiterer Entfernung anlockt – und sie bei längerem Aufenthalt auf der Kannenpflanze benommen macht.
Kommt nun eine Fliege vorbei oder verirrt sich eine Ameise auf der Kannenpflanze, wird ihr immer schummriger, je länger sie vom süßen Nektar kostet. Irgendwann rutscht sie auf dem von Drüsen befeuchteten, gerillten Rand der Kanne aus – quasi Aquaplaning für Insekten – und fällt in die Tiefe, wo sie in der Flüssigkeit verdaut wird. Madagassische Kannenpflanzen ernähren sich insgesamt zu 80% von Ameisen und nur zu einem sehr kleinen Teil von Fliegen, Käfern, Grillen und Motten. Aber warum gibt es überhaupt Pflanzen, die sich von Insekten ernähren? Die Antwort ist recht einfach: Kannenpflanzen wachsen von jeher auf sehr stickstoffarmen Böden. Diesen Mangel müssen sie ausgleichen, und haben dafür Insekten für sich entdeckt.
Zu Beginn der Regenzeit tragen die weiblichen und männlichen Kannenpflanzen kleine, helle Blüten. In Dutzenden wachsen sie an langen, schlanken Stielen, sind aber relativ unscheinbar. Die Befruchtung übernehmen Insekten. Später bilden die Pflanzen dann schmale, braune Samenkapseln aus, um ihre Fortpflanzung zu sichern. Kannenpflanzen kommen übrigens außer auf Madagaskar vor allem in Südostasien (Indonesien, Malaysia, Borneo, Sumatra) vor. Man vermutet, dass sie mit den ersten Menschen auf die rote Insel kamen, denn die unscheinbaren kleinen Samen können leicht an Kleidung und Gegenständen hängen bleiben.
Die heranwachsenden Kannenpflanzen benötigen rund neun Monate, um ihre ersten Kletterkannen auszubilden. Danach bildet jede einzelne Kanne zusammen mit den Kannenpflanzen in ihrer Umgebung rund drei Monate lang ein eigenes, kleines Ökosystem, bevor sie vertrocknet. Jede Kanne hat dabei ihre persönlichen Nutznießer: Halmfliegen und Ameisen bedienen sich direkt in den Kannen von heruntergefallenen Insekten. Auf den Pflanzen fangen kleine Springspinnen, Gottesanbeterinnen, Libellen und Taggeckos die potenzielle Beute ab. Sogar in der eigentlich tödlichen Flüssigkeit der Kannen selbst haben es sich manche Tiere nett eingerichtet: Bestimmte Moskitolarven werden hier ausgebrütet.
Heute werden die beiden madagassischen Kannenpflanzen trotz ihrer Verbreitung auf gerodeten Flächen als „endangered“, also gefährdet, auf der roten Liste geführt. Mangels existenter Daten kann man jedoch kaum wirklich etwas zur Populationsgröße und dem tatsächlichen Gefährdungsstatus sagen. Beide Arten haben – obwohl Nepenthes masoalensis vorwiegend in einem Nationalpark vorkommt, wo Entnahme strikt verboten ist – inzwischen ihren Weg zu Pflanzenliebhabern auf aller Welt gefunden. Schöner ist es natürlich, die Kannenpflanzen in ihrem natürlichen Lebensraum zu bestaunen. Auf Madasgaskar.
- Prey composition of the pitcher plant Nepenthes madagascariensis
Wissenschaftlicher Artikel | Großbritannien 2010 | Autor: Rembold, Fischer et al - Structure and dynamics in Nepenthes mad. pitcher plant micro-communities
Wissenschaftlicher Artikel | USA 1996 | Autor: Ratsirarson und Silander - Website von Rudolf Schmid-Hollinger: Samenkapseln, Kannen, Drüsen, Härchen, Blüten und Fruchtstände von Nepenthes madagascariensis und Nepenthes masoalensis