Vor vielen Jahrhunderten, zu Zeiten der Vazimba, existierten die Zazavavindrano, die Töchter des Wassers. Eine von ihnen war Ranoro. Das ist ihre Geschichte.
Eines Tages lief ein junger Mann der Betsileo zum Fluss Mamba im Hochland Madagaskars. Der Name des Mannes war Andriambodilova. Inmitten des Flusses entdeckte er eine schöne junge Frau, die auf einem Felsen saß. Sie trug lange offene Haare, die bis ins Wasser hinein reichten. Ihre Augen schienen von einer Tiefe, als würden sie die ganze Landschaft um sie herum einfangen. Völlig gefangen von der Schönheit verharrte Andriambodilova stumm am Ufer, die Augen auf die Schöne gerichtet, und wagte sich nicht zu rühren. Schließlich fasst er sich ein Herz und begann leise zu singen, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen. Seine Stimme war sanft und melodisch. Die Schöne lauschte dem Lied einen Moment, doch dann verschwand sie in den Fluss. Enttäuscht blieb Andriambodilova am Ufer stehen. Dieses Schauspiel wiederholte sich in den nächsten Tagen mehrere Male.
Schließlich entschied Andriambodilova sich, die schöne junge Frau zu überlisten. An einem Morgen schlich er sich, geschützt vom Schilf am Ufer des Flusses, ans Wasser heran. Dann schwamm er geräuschlos bis zu dem Felsen, auf dem die Frau jeden Tag saß. Als sie ihn bemerkte und fliehen wollte, wollte Andriambodilova sie festhalten und erwischte ihr langes Haar. „Ich fliehe nicht, bitte lass mich los. Du tust mir weh. Was willst du von mir?“, sagte die junge Frau zu ihm. „Sag mir deinen Namen!“ forderte Andriambodilova. „Ich heiße Ranoro“, sagte sie. „Ich bin eine Tochter des Wassers. Mein Vater ist Andriantsira, der Herr des Salzes. Ich lebe am Grund des Flusses mit den Söhnen und Töchters des Wassers.“ Andriambodilova gestand Ranoro, dass er sich in sie verliebt hatte. „Willst du meine Frau werden?“, fragte er sie. „Ja“, sagte Ranoro, „das will ich!“ Und sie erklärte ihm: „Ich bin immer wieder vor dir abgetaucht, um dich zu prüfen. Wärst du nicht mehr wieder gekommen und hättest deine Liebe einer anderen Frau geschenkt, so hättest du dich nicht als meiner würdig erwiesen. Denn geteilte Liebe ist wie ein vertrockneter Fluss.“
So nahm Andriambodilova die Tochter des Wassers, Ranoro, zur Frau. Eine einzige Bedingung stellt Ranoro ihrem Mann zur Hochzeit: „Du darfst niemals das Wort Salz aussprechen. Denn der Herr des Salzes ist mein Vater allein.“ Andriambodilova willigte ein. Sie lebten viele Jahre glücklich zusammen und hatten viele Kinder. König Andrianjaka übergab Andriambodilova und Ranoro die Herrschaft über Ambohimanarina.
Doch das Glück währte nicht ewig. Eines Tages bat Andriambodilova am Morgen Ranoro, sie möge doch das Kalb anbinden und so vom Euter der Kuh fernhalten. Er wollte gerne selbst die Kuh melken, wenn er später vom Reisfeld zurückkäme. Versehentlich band Ranoro das Kalb jedoch falsch herum an. So konnte es sich befreien und trank das Euter der Kuh aus. Als Andriambodilova nach Hause kam und das frei umher springende Kalb entdeckte, wurde er wütend. Doch Wut ist ein schlechter Ratgeber. In seiner Wut rief er: „Du bist nicht zum Leben auf dem Lande zu gebrauchen! Immer wirst du eine Tochter des Salzes bleiben!“ Er hatte kaum das Wort Salz ausgesprochen, als Ranoro zu einer Grotte am Fluss Mamba lief und sich ins Wasser warf. Andriambodilova lief ihr hinterher, doch es war zu spät. Ranoro tauchte nicht wieder auf. Sie kehrte nie wieder ans Land zurück.
Der Sage nach erschien Ranoro, die Tochter des Wassers, ihrem Mann und ihrem Kinder im Traum. Anderen Menschen soll sie sich ebenfalls im Traum gezeigt haben, und ihr Rat war stets derselbe: „Wenn ihr euch an meine guten Taten erinnert, werde ich euch beschützen. Und wenn ihr zu der Höhle kommt, in die ich mich zurückgezogen habe, werde ich euch helfen.“
Das Dorf Andranoro, übersetzt „der Ort, wo Ranoro lebte“, existiert noch heute. Es liegt am Rande der Hauptstadt Madagaskars, Antananarivo. Nicht nur den Ort, wo Ranoro ins Wasser verschwand, kann man heute noch besuchen. Auch das Grab ihres Mannes, Andriambodilova, ist noch auf dem Hügel von Anosisoa vorhanden. Die Hütte des Paares ist eine Art Wallfahrtsort geworden. Alle drei Orte gelten als fady. Wer den heiligen Felsen von Ranoro besucht, dem erfüllt die Tochter des Wassers auch heute der Sage nach Wünsche.