Egal, wo immer man auf Madagaskar unterwegs ist: Irgendwann begegnen einem Menschen, die mit silbernen Kugeln auf einem Stück flachem Boden spielen. Die Kugeln sind meist abgenutzt, die eingeritzten Linien darauf kaum noch erkennbar, die Kugeln selbst sind kaum noch rund vom vielen Benutzen. Das Spiel heißt Pétanque und wird wohl – ausgenommen sein Ursprungsland – nirgends auf der Welt so gern gespielt wie auf Madagaskar.
Das Pétanque-Spiel stammt ursprünglich aus dem Süden Frankreichs, wo es Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden wurde. Zur gleichen Zeit herrschte Frankreich als Kolonialmacht über die Tropeninsel Madagaskar. Und die Franzosen brachten nicht nur Waffen und Industrie nach Madagaskar, sondern auch das Pétanque-Spiel. Obwohl die Kolonialzeit in der Erinnerung der meisten Madagassen keine besonders gute Zeit war, erfreut sich Pétanque erstaunlicher Beliebtheit im ganzen Land.
Das Wort Pétanque stammt aus dem Dialekt der französischen Provence für „geschlossene Füße“, ped tanco. Es beschreibt die Fußstellung, in der man die Kugeln wirft, als Gegensatz zum Jeu provençale, bei dem man vor dem Kugelwurf drei Schritte macht. Vermutlich ist es die Einfachheit der Pétanque, die das Spiel auf Madagaskar so beliebt ist. Man benötigt kein extra Spielfeld, keine Banden am Rand oder einen speziellen Untergrund. Gespielt werden kann auf fast jedem Boden, der ein einigermaßen ebenes Spielfeld von mindestens 12 x 3 m² bietet. Vor dem Spiel wird ausgelost, welche Mannschaft zuerst mit dem Werfen der Zielkugel beginnen und damit das Spielfeld aussuchen darf. Ein Spieler der gleichen Mannschaft bestimmt außerdem den Wurfkreis, der zwischen sechs und zehn Meter von der Zielkugel entfernt sein muss. Aus diesem Wurfkreis heraus spielen beide Mannschaften. Jeder Spieler hat dann zwei oder drei Metallkugeln zwischen 650 und 800 Gramm.
Geübte Spieler „lesen“ vor dem Spiel den Boden, gehen in die Hocke und betrachten genau jede Unebenheit. Hindernisse wie Äste oder Hügel dürfen während des Spiels nicht entfernt werden. Vor einem Wurf darf jeder Spieler nur genau ein Loch, das durch das Auftreffen einer Kugel auf dem Boden entstanden ist, mit dem Fuß verwischen. Daher muss der Spieler schon im Voraus die Bodenbeschaffenheit in seine Taktik und Spielweise mit einbeziehen.
Es wird abwechselnd geworfen. Man versucht, die Kugeln so nahe wie möglich an die kleinere, hölzerne Zielkugel, das sogenannte Schweinchen, zu werfen. Beim Pétanque gibt es zwei Varianten, die Kugel an das Schweinchen heran zu bekommen: Das Legen und das Schießen. Beim Legen unterscheidet man den halben Wurf, bei dem die Kugel auf halber Strecke den Boden berührt und dann weiterrollt, vom echten Wurf, bei dem die Kugel kurz vor dem Schweinchen erst aufsetzt und nur eine kurze Strecke über den Boden rollt. Außerdem gehört zum Legen der halbe Wurf, bei dem die Kugel direkt hinter dem Abwurfkreis bereits aufsetzt und die gesamte Strecke bis an die Zielkugel heran rollt. Mit dem Schießen dagegen werden gezielt gegnerische Kugeln aus dem Feld geräumt oder Konstellationen verändert. Wer eine andere Kugel direkt abschießt, führt einen sogenannten Tir au fer, zu deutsch Eisenschuss, aus.
Sind alle Kugeln geworfen, wird die Aufnahme ausgewertet: Wessen Kugel am nächsten an der Zielkugel liegt, dessen Mannschaft bekommt einen Punkt. Weitere Punkte gibt es, wenn gleich mehrere Kugeln der gleichen Mannschaft näher an der Zielkugel liegen als die Kugeln der gegnerischen Mannschaft. Wer 13 Punkte erreicht, hat gewonnen – es müssen also stets mindestens drei Aufnahmen gespielt werden.
Pétanque kann von Menschen jeden Alters, mit und ohne körperliche Gebrechen, gespielt werden. Auch das macht diesen Sport auf Madagaskar beliebt. Wer besonders geschickt mit den Kugeln wirft, kann während des Spiels gezielt gegnerische Kugeln von der Zielkugel wegschießen und Kugeln der eigenen Mannschaft näher an die Zielkugel heranbringen. Dabei fliegt manchmal auch die Zielkugel selbst durch die Gegend und es entstehen völlig neue Konstellationen. Das macht die Pétanque spannend und interessant. Auf Madagaskar ist vor allem das Ausmessen entscheidend, wenn zwei Kugeln ähnliche nahe an der Zielkugel liegen. Eigentlich nimmt man zum Ausmessen die sogenannte Tirette, einen Gliedermaßstab. Auf dem Land misst man jedoch auch mit Bindfäden, Fingern oder einfach den nackten Füßen.
Wer dagegen professionell spielt, kann sich im Wettkampf mit anderen messen. Das geht als Einzel (Tête-à-tête), im Doppel (Doublette) oder zu dritt (Triplette). Madagaskar gehört seit Jahren der Fédération Internationale de Pétanque et Jeu Provençal (F.I.P.J.P.) an, dem internationalen und größten Verbands des Spiels. Der Verband richtet jedes Jahr die Pétanque-Weltmeisterschaften aus. Die nächste Weltmeisterschaft findet 2022 in Dänemark statt. Weitere wichtige Wettbewerbe sind die World Games sowie die Indian Ocean Island Games, die beide im Vierjahresrhythmus stattfinden.
Als federführender madagassischer Sportverband trat bis 2019 die Fédération Malagasy de Pétanque (FMP) auf. Wegen diverser Querelen innerhalb der FMP wurde dem Verband 2019 jedoch die internationale Spiellizenz entzogen. Daraufhin gründete sich im gleichen Jahr in Antananarivo der neue madagassische Sportverband Fédération Sport Boules Malagasy (FSBM), der prompt als neues Mitglied der internationalen Pétanque-Vereinigung anerkannt wurde. Es ist madagassischen Pétanque-Spielern also auch weiterhin möglich, an internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Madagaskar ist seit 2016 amtierender Weltmeister im Pétanque (Triplette der Herren). Den zweiten Weltmeistertitel nach 1999 errangen die Madagassen im eigenen Land, in der Hauptstadt Antananarivo. Schon drei Mal (1982, 2007 und 2010) wurde Madagaskar Vizeweltmeister im Pétanque.
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Pétanque am Strand: © moramora, lizensiert bei AdobeStocks