Einst für ihr Schildpatt gejagt, heute vom Aussterben bedroht
Rund um Madagaskars Küsten und Inseln kommen fünf Arten von Meeresschildkröten vor. Eine der bekanntesten dürfte dabei die echte Karettschildkröte, Eretmochelys imbricata, sein. Berühmt ist sie vor allem wegen ihres namensgebenden französischen caret, ein Begriff von den französischen Antillen. Er bezeichnet sowohl das Tier selbst als auch das wertvolle Schildpatt, das aus dem Panzer der echten Karettschildkröte gewonnen wird. Nur die dünne, wunderschön gemaserte Hornschicht auf dem knöchernen Panzer der Schildkröten kann als Schildpatt verarbeitet werden. Das bedeutet, dass selbst eine große Karettschildkröte von 75 Kilogramm und bis zu 115 Zentimeter Panzerlänge gerade einmal knappe zweieinhalb Kilogramm Schildpatt liefert.
Schildpatt wurde vor allem im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert massenhaft für die Herstellung von Schmuckstücken wie Ohrringen und Armreifen, Gürtelschnallen, Taschen und anderen Accessoires verwendet. Ein nicht unerheblicher Teil stammte aus den Küstenregionen Madagaskars. Tausende von Karettschildkröten verloren dabei jedes Jahr ihr Leben. Erst mit dem Washingtoner Artenschutzabkommen wurde der Handel mit Schildpatt in den 1970er Jahren international verboten.
Die Population der echten Karettschildkröten hat sich allein in den letzten hundert Jahren um mehr als 80% verringert. Heute ist die echte Karettschildkröte akut vom Aussterben bedroht. Madagaskar gilt als eines ihrer letzten Refugien.
Die Sakalava nennen sie fanohara, Perlmutt-Schildkröte
Madagaskar gehört mit seiner Lage im Indischen Ozean und stetig warmen Wassertemperaturen zu den bevorzugten Lebensräumen der echten Karettschildkröten. Die Unterart, die hier lebt, heißt Eretmochelys imbricata bissa. Sie kommt überall um Madagaskar herum vor, allerdings bevorzugt an der nördlichsten Spitze Madagaskars sowie im Südwesten. Im Norden bei den Sakalava und im Südwesten bei den Vezo nennt man sie fanohara, die Perlmutt-Schidkröte, bei den südwestlichen Sakalava fanohaty. Die Antanosy nennen die Karettschildkröte fanotanga.
Man schätzt, dass Karettschildkröten mit vier bis fünf Jahren geschlechtsreif werden. Bei der Paarung klammert sich das kleinere Männchen auf dem Rückenpanzer des größeren Weibchens fest. Auf diese Weise lässt es sich über Stunden durchs Meer tragen, bis es sich nach getaner Arbeit wieder von seiner Partnerin löst.
Nur einer unter Tausend Schlüpflingen überlebt
Alle zwei oder drei Jahre kehren die Weibchen an den Strand zurück, an dem sie selbst geschlüpft sind. Auf Madagaskar liegen diese Strände vor allem im äußersten Norden zwischen den Inseln nahe Nosy Be, Antsiranana und Vohémar, außerdem im Westen vor Morondava und Maintirano sowie im Südwesten bei Anakao. Die vorgelagerten Inseln Nosy Ve, Nosy Sakatia, Nosy Iranja und das Nosy Hara–Archipel sind jedes Jahr Orte, an denen die Schildkröten erwartet werden. Am Morgen, bei Sonnenaufgang, kommen sie an den weißen Sandstrand. Mühevoll schleppen sie sich zu den etwas höher gelegenen Nistplätzen, um dort ein Loch auszuheben und ihre Eier hinein zu legen. Dann schieben sie den Sand mit ihren Flossen darüber zusammen. Bevor die Sonne ihren Höchststand erreicht, verschwinden die Karettschildkröten wieder ins Meer. In einer Ablagesaison kann jedes Schildkrötenweibchen alle zwei Wochen Eier legen, bis zu vier Gelege kommen vor. Die Hauptsaison für Eiablage und Schlupf liegen zwischen Oktober und März, in der madagassischen Regenzeit. Die meisten Nester entstehen im Dezember und Januar.
Ein einziges Nest schützt bis zu 177 Eier des gleichen Weibchens. Nach acht Wochen schlüpfen die kleinen Meereschildkröten an den weißen Sandstränden – ein Schauspiel, das neugierige Zuschauer, aber auch Eierdiebe und Beutegreifer auf den Plan ruft. Suchen die Babyschildkröten den Kräfte zehrenden Weg ins Meer, warten schon Möwen am Himmel und Haie sowie andere Raubfische im Meer auf einen kleinen Snack. Die Babyschildkröten schlüpfen alle gleichzeitig – umso höher stehen die Chancen für das einzelne Baby, den Weg ins Meer zu schaffen. Aber die ersten Stunden, Tage und Woche einer Karettschildkröte sind hart. Nur ein einziges von 1000 Schildkrötenbabys überlebt.
Die Leibspeisen sind Schwämme
Junge Karettschildkröten halten sich vor allem im Schutz schwimmender Algen auf. Im Gegensatz zu anderen jungen Meeresschildkröten begeben sie sich kaum in die Tiefen des Ozeans. Nähern sie sich der Geschlechtsreife, kommen die jungen Schildkröten wieder zurück in ihre angestammten Korallenriffe. Dachte man früher, dass Karettschildkröten sich eigentlich kaum außerhalb ihres Riffs bewegen, gilt es heute als erwiesen, dass besonders die ausgewachsenen Weibchen nach der Eiablage weiter wandern und fremde Nahrungsgründe suchen. Trotzdem bevorzugen sie auch dabei eher küstennahe Gebiete.
In den Korallengärten von Nosy Tanikely, Nosy Sakatia und Nosy Hara kann man die ausgewachsenen Schildkröten dabei beobachten, wie sie nach ihrer Leibspeise suchen. Mit dem hakenförmig gebogenen Schnabel ziehen sie vor allem Hornkieselschwämme zwischen den Korallen heraus. In einigen Populationen machen Schwämme über 90% der Nahrung echter Karettschildkröten aus. Man nennt diese Ernährungsform spongivor. Die meisten Populationen ernähren sich aber eher omnivor und fressen auch Weichkorallen, Scheiben- und Krustenanemonen, Seescheiden, Rippenquallen und Nesseltiere. Seltener ergänzen Karettschildkröten ihr Tagesmenü mit kleinen Mengen an Braunalgen.
Der Schutz der Meeresschildkröten fängt gerade erst an
Erste Schutzbemühungen rühren sich auf Madagaskar: Es ist inzwischen auf der ganzen Insel verboten, echte Karettschildkröten der Natur zu entnehmen, egal zu welchem Zweck. Zusätzlich wurden verschiedene marine Schutzgebiete geschaffen, unter anderem rund um die Eiablagegebiete von Nosy Sakatia, Nosy Hara und Nosy Tanikely. Um das Archipel von Nosy Hara werden Studien mit Sendern durchgeführt, die die Wanderungen der Schildkröten dokumentieren. Andernorts sind Fischnetze mit Entweichmöglichkeiten für Meeresschildkröten (sogenannte turtle excluder devices, TED) schon an der Tagesordnung, rund um Madagaskar ist die Entwicklung noch etwas langsamer. Und auch an der Einhaltung der existenten Schutzgebiete und Fangverbote hapert es immer wieder.
Die echte Karettschildkröte wird von einigen Volksstämmen wie den Sakalava als fady (tabu), angesehen und deshalb nicht gegessen. Bei den Vezo und Antanosy kennt man dieses Fady jedoch nicht. Generell wird die Karettschildkröte aber weniger zum Verzehr gejagt als andere Meeresschildkröten. Sie landet eher als Beifang auf der Jagd nach Seegurken und Haien in den jarifas, speziellen Netzen. Auch als illegales Souvenir findet man hier und da noch Karettschildkröten-Panzer, ausgestopfte Schildkröten und verarbeitetes Schildpatt.
Madagaskar ist ein Hot Spot für Karettschildkröten
Wer die schönen Meerestiere einmal live in der freien Natur erleben möchte, hat im Nordwesten Madagaskars auf den Inseln Nosy Sakatia und Nosy Tanikely die Möglichkeit dazu. Hier gibt es ganzjährig geführte Ausflüge zum Schnorcheln mit echten Karettschildkröten.
Man kann die Art übrigens ganz gut von den ebenfalls hier vorkommenden grünen Meeresschildkröten unterscheiden: Bei der echten Karettschildkröten überlappen die Hornplatten des Rückenpanzers einander, bei der grünen Meeresschildkröte nicht. Außerdem tragen Karettschildkröten zwei Krallen an jeder Vorderflosse. Die Ränder des Rückenpanzers sind außerdem gezackt, was sie gut von anderen Meeresschildkröten unterscheidet. Erst im Alter werden diese Zacken weniger, man kann sie dann nur noch im hinteren Bereich erkennen. Bis zu 40 Jahre alt können Karettschildkröten werden – viel Zeit, diese wunderschönen Meeresbewohner auf Madagaskar kennenzulernen!