Es passt problemlos auf einen Streichholzkopf, und man könnte fast meinen, dass der kleinste Windhauch den zerbrechlichen Winzling herunterwehen würde: Brookesia micra, das zweitkleinste* Reptil der Welt. Trotz seinen wenigen Millimeter Körperlänge ist an dem kleinen, braunen Erdchamäleon alles dran, was auch andere Chamäleons brauchen: In alle Richtungen bewegliche Augen, die charakteristische Schleuderzunge und die Greiffüßchen. Nur einen langen Schwanz zum Festhalten an Ästen hat es nicht, bei diesem Zwerg ist es eher ein Stummelschwanz geworden.
Brookesia micra erreicht selbst ausgewachsen eine maximale Gesamtlänge von gerade einmal zwei bis drei Zentimetern. Der kleine Körper hat keine Hüftschilde oder auffällige Rückenkämme wie andere Arten, nur zwei stachelartige Schuppen an der Hüfte sind geblieben. Wahrscheinlich sind viele auffällige Merkmale im Zuge der evolutionären Verkleinerung verloren gegangen: Je kleiner, desto simpler die Konstruktion. Bei manchen Individuen hat sich die Natur aber eine kleine Besonderheit als Ausgleich ausgedacht: Der Schwanz einiger ausgewachsener Tiere leuchtet gelb-orange.
Überhaupt scheint alles an dem kleinen Wesen eine einzigartige Miniatur-Ausgabe zu sein, doch es ist nicht allein: Brookesia micra gehört zu einer ganzen Gruppe winziger Erdchamäleons, die sich vor allem im Norden Madagaskars finden lassen. Das größte davon wird gerade einmal 10 cm lang. Sie alle eint das braune Äußere und die Lebensweise auf dem Boden zwischen Laub und Moos. Nur nachts klettern Erdchamäleons auf dünne Ästchen, um vor Beutegreifern sicherer zu sein. Bei Brookesia micra reicht bereits ein Grashalm.
Erst 2012 wurde die Art, benannt natürlich nach ihrer Größe vom griechischen mikros (klein, winzig), von den deutschen Biologen Frank Glaw, Jörn Köhler und Miguel Vences sowie dem US-Amerikaner Ted Townsend beschrieben. Gewusst hatten die vier bereits ein paar Jahre früher von dem Winzling auf Madagaskar, aber genetische Daten und Untersuchungen fehlten noch. Über den Lebenszyklus des Winzlings unter den Chamäleons weiß man leider immer noch kaum etwas. Es frisst sehr kleine Insekten, darunter Ameisen, Blattläuse und Fruchtfliegen. Die Weibchen legen für ihre Körpergröße verhältnismäßig riesige Eier – maximal zwei pro Gelege- , aus denen später nicht mal einen Zentimeter große Jungtiere schlüpfen. Wie alt die Kleinen einmal werden, ist jedoch völlig unbekannt.
Das kleinste Reptil der Welt kommt, soweit man bisher weiß, ausschließlich auf der kleinen Insel Nosy Hara nahe des nördlichsten Zipfel Madagaskars vor. Die Insel besteht aus Tsingys, Nadelsteinfelsen aus Kalksandstein, und Trockenwald. Sie ist umgeben vom türkisblauen Wasser des Kanals von Mosambik, und gibt eine paradiesische Kulisse für das Leben eines so außergewöhnlichen Tieres ab. Wie lange die Insel schon vom übrigen Madagaskar getrennt ist, weiß man nicht so genau. Es könnte sein, dass die Verzwergung der Erdchamäleons hier von der starken Isolation von anderen Erdchamäleon-Populationen begünstigt wurde. Zum Glück ist die Insel inzwischen ein offizieller Nationalpark, so dass Brookesia micra außer Zyklonen und Schmugglern wenig Unheil droht. Besucher gibt es auf der Insel allerdings sehr wenige im Jahr – gut für die Tiere, jedoch schlecht für die Kasse des Parks und den damit verbundenen Möglichkeiten zum Schutz der Insel. Bedrohungen für ein so kleines Erdchamäleon gibt es aber auch ohne den Menschen viele: Kleinsäuger, Vögel, selbst Frösche und andere Chamäleons können ein so kleines Reptil problemlos verspeisen oder zertreten. Es ist also ein gefährliches Leben, was der Winzling führt – und doch oder gerade deswegen schaffte die Art es, über Jahrhunderte verborgen vor neugierigen Augen zu bleiben. Ein echtes Wunder der Natur eben.
* Seit Anfang 2021 ist Brookesia micra nicht mehr das kleinste Chamäleon der Welt. Diesen Titel trägt nun die neu beschriebene Art Brookesia nana, ebenfalls ein Bewohner Madagaskars.