In kaum einem Land hat Reis, auf madagassisch vary, eine solch immense Bedeutung wie auf Madagaskar. Die Insel hat einen der höchsten pro-Kopf-Verzehre an Reis weltweit: Immerhin 120 kg Reis isst ein Madagasse im Schnitt pro Jahr. Damit liegt Madagaskar weit vor typischen Reisanbauländern wie China, das jährlich auf nur 77 kg pro Nase kommt. Nur der Vietnam liegt mit 140 kg Reis pro Einwohner pro Jahr noch darüber.
Nach Madagaskar kam der Reis vermutlich schon vor über tausend Jahren zusammen mit den ersten Siedlern, die aus Indonesien und Malaysia stammten. Im zentralen Hochland Madagaskars war König Andriamanelo, der 1540 gekrönt wurde, der erste, der den Reisanbau ordnete und offiziell Reisfelder für die Ernährung der Menschen anlegen ließ. Es dauerte aber noch weitere zwei Jahrhunderte, bis der berühmteste König der Merina, Andrianampoinimerina, offizielle Regeln zum Reisanbau für die Bevölkerung erließ und Ende des 18. Jahrhunderts erste Reisspeicher baute. Durch seine und seines Sohnes Radamas I. intensive Kontakte nach Europa, vor allem zu Franzosen und Engländern, konnte der Anbau in Terrassen intensiviert werden. Ab dem 16. Jahrhundert wurde Reis aus Madagaskar sogar zum Exportgut: Seefahrer aus Europa tauschten Schmuck, Waffen und andere Gegenstände gegen das Grundnahrungsmittel ein. Nosy Boraha (St. Marie), Mahavelona (Foulpointe) und Toamasina (Tamatave) waren lange Zeit Stützpunkte des Exports, obwohl der Reisanbau selbst im Hochland weitaus besser gedieh.
Zu allen drei Mahlzeiten des Tages wird heute auf Madagaskar Reis verzehrt: Am Morgen in Form einer dicken Suppe, am Mittag und am Abend mit Zebu, Huhn oder etwas Gemüse. Selbst der am Boden des Topfes angebrannte Reis wird noch verwendet, aus ihm lässt sich mit Wasser das sogenannte ranovola (zu deutsch wertvolles Wasser), Reiswasser, kochen. Es wird zum Mittag- und Abendessen als Getränk gereicht. Satt kann laut einem madagassischen Sprichwort nur sein, wer im Laufe des Tages genügend Reis gegessen hat. Grundsätzlich ist Reis ein Süßgras, von dem es verschiedene Arten gibt. Der meist angebaute Reis ist Oryza sativa, wovon es weltweit rund 400.000 Varianten gibt. Die bekanntesten und auf Madagaskar angebauten Sorten sind Indica und Japonica. Indica-Varianten sind langkörnig (länger als 6 mm) und kleben nach dem Kochen nicht zusammen, was den Reis leichter und luftiger macht. Japonica-Varianten dagegen sind kurzkörnig, neigen zum aneinander kleben, ergeben aber keine klebrige Masse wie der aus Asien bekannte Klebreis. Der oft auf Märkten teurer angebotene, langkörnige, rote Reis (Vary lava) ist etwas nährstoffreicher und vor allem bei wohlhabenderen Madagassen beliebt.
Auf Madagaskar werden zwei Formen des Reisanbaus unterschieden: Die ältere und einfachere Variante ist der Bergreis. Mittels Brandrodung wird Ackerland gewonnen, in dessen Boden per Hand kleine Löcher gegraben werden. In jedes Loch werden ein paar Reiskörner gesät, dann wird etwas Erde darüber gegeben. Der Ertrag liegt mit rund 800 kg/ha sehr niedrig. Für diese Variante des Reisanbaus ist außerdem regelmäßiger Regen nötig, und den gibt es vor allem entlang der Ostküste. Daher wird Bergreis nur hier und zu sehr kleinen Anteilen im zentralen Hochland angebaut.
Die häufigste praktizierte Anbaumethode und die, die man auch als Reisender überall zu sehen bekommt, ist der Nassreis (horaka). Er wird in Terrassen angebaut und über komplexe Zulauf- und Verteilungssysteme ständig bewässert. Gut 2000 Liter Wasser braucht es für ein einziges Kilo Reis. Dem gegenüber steht ein höherer Ertrag von ein bis zwei Tonnen Reis pro Hektar. Vor der Ernte steht jedoch viel Arbeit: Gegen Ende der Trockenzeit wird die Erde umgepflügt. Dies ist Aufgabe der Männer, die mittels eines schmalen Spaten (angidy) nach und nach das Feld umstechen. Der angidy ist das einzige Werkzeug, das für den Reisanbau auf Madagaskar überhaupt genutzt wird. Wer Zebus besitzt, lässt sie gezielt über die Reisfelder laufen, um die Erde weich zu trampeln. Pflüge haben sich bis heute auf Madagaskar nicht durchgesetzt, man sieht sie nur sehr vereinzelt bei wohlhabenderen Reisbauern. Während der Vorbereitung des Reisfelds kümmern die Frauen sich um die Aussaat der Reiskörner. Meist nutzen sie dazu extra Pflanzbeete (tanin-ketsa), in denen die Körner keimen und die jungen Reisschößlinge die ersten Wochen heranwachsen. Nach 30 bis 40 Tagen werden die jungen Reispflanzen aus ihren Beeten entnommen und in das vorgesehene Reisfeld umgesetzt. Diesen Vorgang nennt man Repiquage. Dann übernehmen wieder die Männer das Handwerk: Sie sind dafür zuständig, die Terrassen unter ständiger Bewässerung zu halten, Erdwälle auszubessern und sich mit den Nachbarn über die Wassernutzung einig zu werden. Für die Befruchtung der Reispflanzen, ohne die keine Reiskörner gebildet werden können, sorgt der Wind.
Zum Beginn der Trockenzeit (März bis Mai) steht der Reis dann in voller Pracht: die strahlend grünen Wogen sind leuchtend gelb geworden und bis zu anderthalb Meter hoch gewachsen. Die Gelbreife zeigt an, dass die Erntezeit gekommen ist. Die Ernte ist vor allem Aufgabe der Frauen. Mit Sicheln werden bündelweise Reisähren abgeschnitten und mit Blättern zusammengeknotet. Sind genug Ährenbündel geschnitten, tragen die Frauen die schwere Last auf den Köpfen nach Hause. Dort beginnt das Dreschen: Die Ährenbündel werden gegen Steine oder eigens dazu hergestellte Holzgestelle geschlagen, um die Reiskörner vom Stroh zu trennen. Gut 3000 Körner trägt jede Ähre. Familien, die sich eigene Rinder leisten können, legen die Bündel auf Bastmatten aus und lassen Zebus darüber laufen. Nach dieser langen und Kräfte zehrenden Arbeit werden die Reiskörner getrocknet und können dann langfristig eingelagert werden, ohne zu verderben.
Noch befinden die Reiskörner sich in ihren Hülsen, doch gegessen wird der Reis auf Madagaskar in der Regel geschält. Zum Schälen vor dem Verzehr stampfen die Frauen den Reis mit großen Holzstämmen in steinernen Schalen. Um dann die Spelzen vom Reis zu trennen, werden flache, geflochtene Schalen geschwenkt. Bei jedem Hochfliegen des Reises trägt der Wind ein paar der Spelzen davon, bis nur noch der reine, geschälte Reis übrig bleibt. Ein Kilo Paddy, also ungeschälter Reis, ergibt durchschnittlich 660 g geschälten Reis.
In den 1980er Jahren erfand der französische Agraringenieur Henrie de Lalaunié in seinem jesuitischen Kloster auf Madagaskar eine Methode des Reisanbaus, die den Ertrag um ein Vielfaches steigert. Beim sogenannten system for rice intensification (SRI) wird nur 1/10 der üblichen Saat verwendet. Die Setzlinge werden in einem Alter von weniger als 15 Tagen, also sehr früh, einzeln (statt in Büscheln) und in Reihen (statt frei verstreut) auf die Felder gebracht. Anstatt das Feld anschließend knietief unter Wasser zu setzen, wird es nur gerade mit so viel Wasser versorgt, dass die Reispflanzen stetig feucht bleiben. Unkraut wird per Hand regelmäßig gejätet. All diese Maßnahmen führen dazu, dass ein einziges Feld mehrere Tonnen Reis pro Ernte abwerfen kann, ohne dass teurer Dünger eingesetzt werden muss. Um die neue Anbaumethode bekannt zu machen, gründete Lalaunié 1990 die Organisation Tefy Saina. Nach seinem Tod Mitte der 1990er Jahre unterstützte die Cornell-Universität die Verbreitung des SRI maßgeblich. Inzwischen nutzen vor allem andere Länder es im Reisanbau, auf Madagaskar selbst hat sich das System bisher nur auf einem Viertel der bewirtschafteten Reisfelder durchgesetzt.
Das größte Reisanbaugebiet der Insel liegt seit Jahrzehnten am Lac Alaotra, Madagaskars größtem Binnensee, nahe der Stadt Ambatondrazaka. Hier gibt es die größten Reisfelder des Landes mit bis zu 500 ha Ausmaßen und teilweise maschineller Ernte. Die Gegend wird auch „die Reiskammer Madagaskars“ genannt. Ansonsten finden sich Reisfelder heute nicht nur überall im Hochland, sondern auch entlang der Ostküste bis in den Norden Madagaskars und entlang des Flusses Marovoay im Westen der Insel.
Eine Vielzahl an Problem führt dazu, dass die meisten madagassischen Reisbauern in bitterer Armut leben. Zum einen sind es die vielen kleinen Reisfelder, die größere Erträge unmöglich machen, während immer mehr Menschen von den gleichen Feldern leben müssen. Mehr als 60% der Reisfelder Madagaskar sind weniger als 5 ha groß, manche an besonders steilen Hängen gar nur wenige Fuß breit. Schon seit den 1970er Jahren muss das Land daher Reis importieren. 1982 erreichte es einen traurigen Rekord von 342.000 t importierten Reis, der knapp 15% des damaligen Bedarfs deckte. Heute gehen die Importzahlen wieder zurück, der meiste importierte Reis stammt aus Pakistan, China, Singapur, Thailand, Myanmar und Indien.
Die Monokultur der Reisterrassen schadet langfristig den Böden. Nach nur wenigen Jahren ist ein Reisfeld am Ende. Die flächendeckende Rodung der ehemaligen Baumbestände des gesamten Hochlandes sorgt für Erosion und brachliegende, für fast nichts mehr nutzbare Flächen. Nur wenige Regionen wie die Felder um Antsirabe haben inzwischen zumindest Fruchtwechsel mit anderem Getreide eingeführt. Alle paar Jahre suchen außerdem riesige Heuschreckenschwärme vor allem das südliche Hochland Madagaskars heim. Innerhalb weniger Minuten vernichten die gefräßigen Insekten die Existenzgrundlage ganzer Dörfer. Durch derartige Katastrophen verschulden sich viele Bauern, um überhaupt neues Saatgut kaufen zu können. Um wenigstens ein-, zweimal im Jahr Geld zu erhalten, wird die gesamte Reisernte sofort nach der Trocknung verkauft, anstatt den Reis einzulagern und auf einen besseren Marktpreis zu warten. Genossenschaften oder andere Zusammenschlüsse von Familien zur gemeinsamen Reisvermarktung gibt es bisher kaum.
Vielerorts haben größere Unternehmen Monopole auf ganze Reisregionen und verpachten die Felder nur. Die Reisbauern arbeiten dann nicht einmal mehr auf ihren eigenen Reisfeldern, und sind gezwungen, Reis für einen vorgegebenen Preis zu verkaufen. Dadurch ergibt sich ein paradoxer Handel: Viele madagassische Bauern verkaufen ihren qualitativ hochwertigen Reis an größere Unternehmen, können aber nichts für sich zurückbehalten. Stattdessen kaufen sie billigeren Reis aus Asien auf dem Markt, um ihre kinderreichen Familien ernähren zu können. Die stehenden Gewässer der Reisfelder sind des Weiteren ein hygienisches Problem und sorgen unter anderem für die weite Verbreitung von Bilharziose.
Die große Bedeutung des Reisanbaus auf Madagaskar lässt sich heute leicht in Zahlen nachvollziehen: Knapp 30% des Bruttoinlandsproduktes wird durch Reis erwirtschaftet. Über 70 % der Madagassen arbeiten in der Landwirtschaft, davon mehr als die Hälfte auf Reisfeldern. Letztere machen gut 40% der heutigen Kulturflächen des Landes aus. Der gesamte madagassische Alltag ist vom Reis geprägt. Unzählige Sprichwörter haben Reis als Thema. Spricht man auf Madagaskar eine Einladung zum Abendessen aus, sagt man dabei zum Beispiel übersetzt „Ich möchte dich zum Reis essen einladen“. Der zweitgrößte Geldschein, der 10.000 Ariary-Schein, zeigt auf einer Seite Frauen beim Pflanzen von Reissetzlingen. Man könnte diese Liste endlos fortsetzen, aber sie zeigt letztlich eins: Reis ist extrem wichtig auf Madagaskar, und wird es wahrscheinlich auch bleiben.