Mächtige dunkelbraune Schwingen, ein scharfer Schnabel und Krallen, die einen Fisch einfach durchbohren: Das sind die Markenzeichen eines der seltensten Raubvögel der Welt. Und der kommt – wie könnte es anders sein? – nur auf dem achten Kontinent vor. Die Rede ist vom Madagaskar-Seeadler (Icthyophaga vociferoides), dem majestätischen und größtem Raubvogel Madagaskars.
Der Madagaskar-Seeadler ist vom Aussterben bedroht
Nur noch rund 250 Tiere leben auf der Insel, die Art ist längst akut vom Aussterben bedroht. In einigen Schutzgebieten wie den Nationalparks Ankarafantsika und Nosy Hara haben Sie eine letzte Zuflucht gefunden. Ursprünglich kamen sie entlang der gesamten Westküste Madagaskars von Morombe bis nach Antsiranana (Diego Suarez) vor, heute existieren nur noch rund 120 Brutpaare in zwei, drei voneinander isolierten Populationen in Ankarafantsika sowie Antsalova nördlich der Tsingy de Bemaraha und entlang der Nordwestküste.
Die Lebensweise der Seeadler ist, wie der Name schon verrät, stets an Wasser gebunden, weshalb der See Ravelobe einer der besten Beobachtungsorte für diese Art geworden ist. Madagaskar-Seeadler sind nämlich strikte Nahrungsspezialisten: Sie leben fast ausschließlich von Fisch. Allerdings dürfen es auch eigentlich nicht-heimische Fische sein, wie ihre bevorzugte Beute, der Tilapia. Weit oben über dem See thronend erspähen sie geeignete Beute knapp unter der Wasseroberfläche, die sie dann im Sturzflug pfeilschnell mit den scharfen Krallen aus dem See fischen. Nur wenn die Nahrung knapp wird, werden Krabben und kleinere Vögel als Futter interessant. Die Seeadler betätigen sich allerdings auch gerne als Diebe: Hat ein Reiher oder Milan gerade Beute im Schnabel, kann es passieren, dass ein Seeadler sie ihm aus dem Schnabel wegschnappt. Mangroven, Flüsse, Inseln und Seen sind potenzieller Lebensraum, doch nur wenige davon bieten geeignete große Bäume, Kliffe und sauberes, klares Wasser. Die hohen Bäume benötigt der Seeadler jedoch zwingend zur Brut – und er sitzt auch gerne weit oben, um stundenlang die Umgebung zu beobachten.
Bei den Seeadlern haben die Weibchen das Sagen
Die Brutsaison der Seeadler beginnt im Mai, mit der Trockenzeit. Das ist eher ungewöhnlich, denn die meisten anderen Vögel brüten in der Regenzeit. Die Weibchen haben grundsätzlich das Sagen: Sie paaren sich mit mehreren Männchen und nutzen auch deren Hilfe, um das Nest aus vielen dünnen Ästchen passend herzurichten. Dass gleich mehrere Männchen über die gesamte Brutsaison bei einem Weibchen bleiben, ist ebenfalls ungewöhnlich bei Vögeln. Sie paaren sich sogar alle gleich oft mit dem Weibchen. Nur zwei Drittel aller Paarungen führen tatsächlich zum Erfolg, der Eiablage. Das Weibchen legt zwar meist zwei Eier, eines früher, eines ein paar Wochen später – doch immer nur ein Junges überlebt. Das später geschlüpfte Jungtier hat das Nachsehen: Es wird in aller Regel von seinem älteren Geschwister gefressen. Überlebt kein Junges, versucht es das Weibchen in der Regel mit einer zweiten Brut. Von der Eiablage bis zum Schlupf dauert es rund 40 Tage. Das geschlüpfte Jungtier wird von seiner Mutter und den diversen sie umgebenden Männchen gleichermaßen gefüttert, beschützt und betreut.
Mit etwas mehr als zwei Monaten wird der Jungvogel flügge. In den ersten Tagen außerhalb des Nests probiert der junge Seeadler erste Flügelschläge und erkundet laufend oder hopsend die umgebenden Äste oder Felsen. Erst nach gut zehn Tagen startet es den ersten „richtigen“ Flugversuch. Im Oktober endet die Brutsaison und damit auch das Revierverhalten der Altvögel. Von jetzt an ist wieder jeder auf sich selbst gestellt, bis die Regenzeit vorüber ist. Junge Seeadler fliegen noch sehr weite Strecken und sind wenig ortsgebunden, sie wechseln zwischen den wenigen verbliebenen Lebensräumen. Erst wenn sie einen Partner gefunden haben, werden sie sesshaft und bleiben fortan das ganze Jahr über in der Gegend um ihr Nest.
Männliche Madagaskar-Seeadler wachsen auf ein Kampfgewicht von stolzen zwei einhalb Kilo heran. Weibchen können sogar ein ganzes Kilogramm schwerer werden und eine Flügelspanne von bis zu 180 cm erreichen. Am Himmel kann man den Madagaskar-Seeadler leicht von anderen Raubvögeln unterscheiden: Er hat einen verhältnismäßig kurzen, weißen Schwanz. Der übrige Vogel ist bis auf die weißen Wangen komplett braun. Nur die Jungtiere haben einen gestreiften Kopf sowie einen dunklen Schwanz. Sie können dadurch leicht von den Altvögeln unterschieden werden.
Die größte Bedrohung für die Seeadler ist der Mensch
Durch sein majestätisches Äußeres ist vielerorts ein gewisser Mythos mit den Seeadlern verbunden, weshalb sie teils leider auch ihren Einzug in traditionelle Schamanen-Utensilien gefunden haben: So soll ein abgetrennter Seeadler-Fuß magische Kräfte verleihen. Leider überleben die wenigsten Seeadler diese martialische Prozedur. Nur ein einziges einbeiniges, überlebendes Tier ist bekannt. Es lebt an den Seen Tsimembo und Manambolomaty und zieht trotz seiner Behinderung erfolgreich Junge auf.
Die Hauptbedrohung für den Madagaskar-Seeadler sind jedoch die schwindenden Brutgebiete. Neben der Zerstörung ihres Lebensraums fungiert der Mensch auch als direkter Nahrungskonkurrenz für den Seeadler: Die Seen auch innerhalb geschützter Gebiete werden von den umliegenden Dörfern zum Fischen genutzt. Abfälle und Fäkalien verschmutzen die Gewässer und nehmen dem Seeadler seine letzte Lebensgrundlage. Große Bäume werden bevorzugt zum Bau von Pirogen, als Feuerholz oder zum Hausbau genutzt.
Seit 1991 unterstützt der Peregrine Fund (Wanderfalken-Fonds) mit Sitz in den USA den Arterhalt des Madagaskar-Seeadlers. Heute wird das gesamte Brutgebiet um Antsalova vom Peregrine Funds betreut, um dort Forschung rund um den Seeadler zu ermöglichen, die lokale Bevölkerung auszubilden und nachhaltige Landwirtschaft einzuführen. Einen ersten Lichtblick gibt es bereits: Seit einigen Jahren scheint die Population des Madagaskar-Seeadlers stabil zu sein. Und genetische Untersuchungen zeigen, dass der Madagaskar-Seeadler möglicherweise schon seit Jahrhunderten nur in kleinen Populationen existiert hat. Inwiefern er damit heute noch zurecht kommt, wird die Zukunft zeigen.
- The Peregrine Fund
- Madagascar Fish-eagle prey preference and foraging success
Wissenschaftlicher Artikel | USA 1999 | Autoren: James Berkelman, James Fraser and Richard Watson - Sakalava fishermen and Madagascar fish eagles: Enhancing traditional conservation rules to control resource abuse that threatens a key breeding area for an endangered eagle
Wissenschaftlicher Artikel | USA 2000 | Autoren: Richard Watson, Riva Rabarisoa - Breeding biology, extra-pair birds, productivity, siblicide and conservation of the Madagascar fish eagle
Wissenschaftlicher Artikel | USA 1999 | Autoren: Richard Watson et al