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Die letzten Dugongs

Dugong im Meer schwimmend - MadaMagazine

Madagaskars Küsten sind die Heimat eins Geheimnisses, von dem nur wenige Reisende wissen. Nicht nur die Insel selbst ist eine Schatztruhe der Artenvielfalt, auch im Meer um sie herum finden sich manchmal ganz besonders seltene Säugetiere: Dugongs (Dugong dugon).

Sie sind ihr Leben lang auf Seegras angewiesen

Auf Madagaskar nennt man sie lamboara oder trozogno. Der deutsche Begriff „Seekühe“ geht auf ihre Ernährung zurück. Denn ihr ganzes bis zu 70 Jahre langes Leben dreht sich um Seegras. Es ist das Einzige, was Dugongs ihr Leben lang fressen. Und dabei sind sie auch noch wählerisch: Nicht jedes Seegras ist genehm. Die meisten Dugongs bevorzugen leichtverdauliches, besonders nahrhaftes Seegras mit einem sehr niedrigen Fasergehalt. Nur wenn wirklich gar nichts anderes vorhanden ist, begnügen Dugongs sich auch mal mit Algen. Stundenlang, tagelang weiden sie langsam über den Boden schwebend in flachen, küstennahen Meeresgebieten mit besonders schmackhaften Seegras-Wiesen. Die Tasthaare am Maul finden zuverlässig immer das beste Gras.

In den Dugong-Gründen um Madagaskar weiß man derzeit von acht verschiedenen Seegras-Arten, die die einzigen Pflanzen fressenden Säugetiere im Meer bevorzugt verzehren. Darunter sind das pazifische Schildkrötengras, verschiedene Bandgräser, Nadel- und Nudel-Seegräser, Löffelgras sowie das Zwerg-Seegras. Jedes Dugong beweidet eine Fläche von rund 4000 m². Dabei wandert es mit den Vorderflossen langsam über den Meeresboden, wirbelt Sediment auf und düngt mit seinen Hinterlassenschaften gleichzeitig die Weidegründe.

Dugongs sind entfernt mit Elefanten verwandt

Damit sie gemütlich am Meeresboden schwebend grasen können, haben Dugongs faszinierende Eigenschaften entwickelt. Ihre Rippen und langen Röhrenknochen gehören zu den dichtesten Knochen der Welt, was sie außergewöhnlich schwer macht. Um die 420 kg hat ein durchschnittliches Dugong bei drei Metern Körperlänge. Dieses extra Gewicht hilft den Tieren wahrscheinlich, besser am Meeresboden verweilen zu können.

Dugongs leben meist allein oder in Paaren, selten sieht man mehr als zwei Tiere zusammen. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die meisten Seegrasgründe größere Gruppen von Dugongs nicht ernähren könnten. Also sucht sich jedes Tier oder Paar seine eigenen Weiden. Dabei sind Dugongs eigentlich soziale Tiere. Sie kommunizieren mit einer ganzen Reihe unterschiedlicher Laute, die weit durchs Wasser hörbar sind. Obwohl sie keine sichtbaren Ohren haben, ist ihr Gehör viel besser als ihre Sicht.

Dugongs sind das Sinnbild des madagassischen Mantras mora mora – immer mit der Ruhe. Meistens sind mit gemächlichen 10 km/h unterwegs. Sie können bis zu sechs Minuten lang tauchen und dabei bis zu 40 m Tiefe erreichen.

Weidendes Dugong am Meeresboden

Das Verschwinden der Dugongs

Früher kamen Dugongs alten Erzählungen nach überall rund um Madagaskar vor. In den Buchten von St. Augustin südlich von Toliara und in der Bucht von Soalala im Westen gab es immer wieder Sichtungen der gemütlichen Meeressäuger. Auch aus der Bucht von Antongil, angrenzend an den Nationalpark Masoala, waren Sichtungen bekannt. Noch in den 1980er Jahren lebten große Gruppen Dugongs an der Südwestküste Madagaskars, zwischen Bevato und Andavadoaka. Weitere, damals häufig von Dugongs aufgesuchte Küstengebiete warem die Halbinsel Ampasindava, die Fischerinsel Nosy Faly und die Inseln rund um Nosy Mitsio im Nordwesten Madagaskars. Sogar von der Insel Nosy Boraha (St. Marie) an der Ostküste soll es vereinzelt Sichtungen gegeben haben.

Umfragen in jüngeren Jahren brachten jedoch schockierende Entwicklungen zu Tage: Seit den 1990ern gingen die Sichtungen massiv zurück. Heute sind Dugong-Beobachtungen rund um Madagaskar extrem selten geworden. Sie ähneln eher einem Sechser im Lotto. Selbst Fischer, die jeden Tag aufs Meer hinausfahren, begegnen den Tieren statt wie früher täglich nur noch wenige Male im Jahr – manche sehen lebenslang keines. Rund um Nosy Be und den benachbarten kleineren Inseln wurden schon seit Jahren keine Dugongs mehr gesichtet, diese Vorkommen scheinen schlicht ausgestorben zu sein.

Dugongs wurden lange Zeit gejagt

Aber wo sind die Dugongs hin? Die Gründe sind vielfältig, eines jedoch kann man recht sicher sagen: Der Mensch ist die Hauptursache für das Verschwinden der Dugongs um Madagaskar. Weltweit wurden Dugongs über Jahrhunderte wegen ihres Fleisches und des aus dem Fett gewonnenen Öl gejagt. Mit dem Öl konnte man Holzpirogen behandeln, das Fleisch wurde gegessen. Nach dem Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES) dürfen Dugongs genau wie ihr Fleisch oder andere Produkte nicht gehandelt werden. Madagaskar ist seit 1975 Teil des CITES-Abkommens. Doch das hat den großen Meeressäugern bisher wenig genutzt.

Gerade in von Trockenheit jedes Jahr schwer betroffenen Gebiete im Süden und Westen Madagaskars waren die sanften Meeresriesen für die extrem armen Fischer lange leichte Beute und begehrte Nahrung. Der Fang und das Zerlegen von Dugongs ist an allen Küsten Madagaskars mit zahlreichen Tabus, den sogenannten Fadys, belegt. Das bezeugt, wie wertvoll ein solcher Fang schon früher für die Menschen war und wie selten er heute geworden ist. Sechs Fischer brauchte man früher, um ein einziges Dugong zu erlegen – vier mühten sich mit dem Fang ab, zwei kümmerten sich ums Boot. Die Zerlegung fand vielerorts nach strengen Ritualen statt, die auch heute noch Bestand haben: Kopf und Genitalien müssen mit einem weißen Tuch bedeckt werden, Frauen und Kinder dürfen an der Zerlegung nicht teilnehmen und schwangere Frauen nicht einmal davon erzählt bekommen. Die Knochen müssen mancherorts direkt zurück ins Meer gegeben werden. An einigen Küstenorten glaubt man, dass verflucht ist, wer das Herz eines Dugongs mit dem Messer berührt.

Für das Zerlegen waren früher ein spezielles großes Messer, das mesobe, und ein schmalers Messer, das kanife, vorgesehen. Das Fleisch schnitt man in Streifen und trocknete es. So konnte man es entweder für den Eigenverzehr aufbewahren oder auf dem Markt verkaufen. Kostete ein Kilo Dugong-Fleisch in den 1980er Jahren noch wenige Ariary (kaum einen Euro), ist der Preis heute für die meisten Madagassen unbezahlbar.

Bei der Zerlegung eines Dugongs kommt auch auf Madagaskar die entfernte Ähnlichkeit der Meeresäuger mit Meerjungfrauen zum Tragen. Fischer, die ein Dugong erlegt hatten, mussten früher nach dem Fang schwören, dass sie keinen Sex mit dem Tier gehabt hatten.

Ein Dugong schwimmt zur Wasseroberfläche, um Luft zu holen

Wo sie nicht gezielt bejagt wurden, waren Dugongs immer wieder ungewollter Beifang. Die auf Madagaskar bis heute verwendeten Kiemennetze (jarifa oder zedazeda), senkrecht im Wasser stehende Fangnetze, führten immer wieder dazu, dass Dugongs darin stecken blieben und elend erstickten. Heute ist ein solcher Beifang eine Seltenheit, kommt aber immer noch vor – insbesondere dort, wo illegal in marinen Schutzgebieten gefischt wird.

Nur eine einzige Volksgruppe Madagaskars verfügt übrigens über ein Fady, dass die Jagd auf Dugongs generell verbietet: Die Vezo, das halbnomadische Fischervolk im Südwesten der roten Insel.

Die langsame Reproduktion verhindert, dass die Dugong-Bestände sich erholen

Neben der Jagd gibt es noch weitere Gründe für das Verschwinden der Dugongs: Eines ist ihre sehr langsame Reproduktion. Dugongs sind Spätzünder. Sie werden erst zwischen acht und achtzehn Jahren geschlechtsreif – ziemlich spät für ein Säugetier. Die Weibchen gebären nur wenige Junge überhaupt in ihrem Leben und immer nur eines auf einmal. Die Trächtigkeit dauert zwischen 13 und 15 Monaten.

Zur Geburt zieht sich das Dugong-Weibchen in sehr niedriges Wasser direkt vor der Küste zurück. Dieses Verhalten sichert ihr Schutz vor größeren Räubern wie Haien oder Walen, die nicht so nah ans Ufer kommen. Das Dugong-Kalb kommt bereits mit über einem Meter Länge und gut 30 Kilogramm zur Welt. Die Mutter schubst es sofort nach oben an die Wasseroberfläche, damit es seinen ersten Atemzug tun kann. In den nächsten Monaten und Jahren bleibt das Kalb immer im engen Kontakt mit der Mutter. Es entfernt sich kaum mehr als ein paar Meter von ihr und versucht stetig, mit Flossen oder Maul Kontakt zur Kuh zu halten.

Jedes Jungtier wird über Jahre mühevoll aufgezogen und versorgt. Allein anderthalb Jahre lang säugt die Mutter das Kalb. Es bleibt aber auch danach weiter bei seiner Mutter, bis es selbst geschlechtsreif ist. Während dieser Zeit paart sich die Mutter in aller Regel nicht mehr. Ein Meeressäuger, der sich nur alle sechs bis acht Jahre fortpflanzt: Ein sehr empfindliches Ziel für Fischerei und Lebensraumschwund.

Der Lebensraum der Dugongs schwindet

Dugongs reagieren außerdem sehr empfindlich auf Umweltverschmutzung. Mit dem zunehmenden Plastik in den Meeren kommen sie kaum zurecht. Regelmäßig sterben Individuen daran. Ihr Lebensraum verschwindet und ihre bevorzugten Nahrungsgründe, die küstennahen Seegrasweiden, werden immer weniger. Motorboote, Überfischung in küstennahen Gewässern und menschliche Aktivitäten in besonders malerischen, flachen Buchten zerstören die wertvollen Seegräser. Etwa ein Drittel der weltweiten Seegras-Bestände sind bereits aus den Meeren getilgt – und jedes Jahr kommen weitere etwa 110 km² zerstörter Seegrasweiden dazu. Dabei sind Seegrasweiden genau wie Korallenriffe und Mangroven sehr wichtig für unser Ökosystem. Sie sind nicht nur Lebensraum und Nahrung für Fische und Dugongs, sondern erhöhen auch die Wasserqualität des Meeres. Dazu geht rund 10% des im Meer gespeicherten CO2 auf Seegrasweiden zurück – es kann bis zu zehn Mal mehr CO2 speichern als die gleiche Fläche Regenwald.

Dazu sind Dugongs scheue Tiere – sie mögen Störungen nicht. Kommen ihnen Menschen regelmäßig zu nahe, ziehen sie sich zurück und wechseln zu anderen Nahrungsgründen. Dabei sind sie jedoch seminomadisch. Sie können zwar weite Strecken schwimmen, bewegen sich aber nie aus einem gewissen Heimatgebiet hinaus. Und selbst nach Jahren versuchen sie noch, in zerstörte Seegrasgebiete zurückzukehren, an die sie sich erinnern.

Die Bejagung in Kombination mit der extrem langsamen Fortpflanzungsrate und ihr schwindender Lebensraum führen dazu, dass den madagassischen Dugongs nur wenige Lebensräume im Norden und Nordwesten geblieben sind. Erste Studien zeigen, dass die aktuellen, zersplitterten und sehr kleinen Populationen vor allem auf den relativ unberührten Seegrasweiden zwischen Mahajanga und Sahamalaza im Nordwesten leben. Eine weitere Population scheint rund um Nosy Hara im Norden vorzukommen.

So kann es funktionieren: Dugong und Mensch in friedlicher Koexistenz

Der Schutz der Dugongs auf Madagaskar kommt langsam voran

Erst seit gut einem Jahrzehnt tut sich etwas für die Dugongs auf Madagaskar. Marine Schutzgebiete wurden errichtet: Sahamalaza und die Radama-Inseln, Ankarea und Akivonjy an der Ampasindava Halbinsel und das marine Schutzgebiet um die Insel Nosy Hara. Über 9000 km² Meeresfläche stehen rund um Madagaskar inzwischen unter Schutz.

Doch die marinen Schutzgebiete errichten sich nicht von allein und bleiben vor allem nicht einfach geschützt. Das Dugong and Seagrass Conservation Project, eine weltweit tätige NGO mit Sitz in Abu Dhabi, ist eine der Organisationen, die sich für madagassische Dugongs einsetzt. Zusammen mit Blue Ventures, MIHARI, C3 Madagascar, Wildlife Conservation Society und COSAP fördert sie derzeit etliche Projekte um die Inseln von Nosy Barren sowie entlang der Westküste um Mahajanga, im Nationalpark Sahamalaza bis an den nördlichsten Zipfel Madagaskars, dem Nationalpark Nosy Hara.

Dabei sind das Monitoring der Schutzgebiete, der Dugongs selbst sowie der Fischerei nur ein Teil der Arbeit. Vorrangig ist, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die bisher von den Schutzgebieten gelebt haben. Dazu gehören eine verbesserte medizinische Versorgung, neue Möglichkeiten zum Lebensunterhalt, Bildung in Sachen Umweltschutz und nachhaltigem Fischfang genauso wie Nahrungsalternativen. Wer seinen Lebensunterhalt mit Entenzucht oder Handwerk verdient, muss weniger oft aufs Meer zurückgreifen. Und wer weiß, wie das Ökosystem Meer und unser eigenes Leben zusammenhängen, setzt sich mehr für den Schutz der küstennahen Seegraswiesen ein.

Erste kleine Erfolge zeichnen sich inzwischen ab: Das Wissen, dass die Dugongs wichtiger Bestandteil des Ökosystem Meeres sind, verbreitet sich langsam, aber stetig. Fischer jagen nicht mehr gezielt nach Dugongs – und lassen sie weiterziehen, wenn sie doch mal eines zufällig entdecken oder als ungewollten Beifang erwischen. Und die Bemühungen um den Erhalt der noch vorhandenen Seegrasweiden hat erste Früchte: Die ersten Dugongs sind zurückgekehrt.

 

Titelfoto © Маргарита Грановская, lizensiert bei AdobeStock
weidendes Dugong, schwimmende Dugongs © b.neeser, vkilikov, a_g_owen, lizensiert bei AdobeStocks

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