Dass Madagaskar immer für eine Überraschung gut ist, war mir schon bei meiner ersten Reise im Jahr 1995 klar. Aber bei dieser Reise sollte es noch ein bisschen anders kommen.
Mit unseren Reisegästen waren wir auf dem Weg in Richtung Süden Madagaskars, und auf unserem Zwischenstopp in der 170 Kilometer von der Hauptstadt entfernten Ortschaft Antsirabe ließen wir uns in einem gemütlichen Hotel nieder. Eigentlich wollten wir am nächsten Morgen weiterfahren. Beim Abendessen fragte mich mein Reisegast Josef, was es mit der Umbettung der Toten auf sich hätte. Wir sprachen eine Weile über diese Tradition, doch auch bei mir blieben einige Fragen offen. Nach der Rückkehr in unser Hotel fragte ich den Wachmann Naina, wann, wie, wo und warum dieses Totenfest stattfindet. Vielleicht hatte er nicht so Recht Lust, alles im Detail zu erklären, jedenfalls sagte er nur: „Übermorgen findet eine Famadihana in meinem Dorf statt – wenn ihr wollt, könnt ihr gerne vorbeikommen.“
Mir war ein bisschen mulmig bei dem Gedanken, mit einer Reisegruppe ein so privates Familienfest, und auch noch eine Totenumbettung, zu besuchen. Ich sprach am gleichen Abend noch mit madagassischen Freunden. Der Tenor: Wenn wir ein Zebu spendieren würden, wäre das alles gar kein Problem. In der Nacht kreisten meine Gedanken um das bevorstehende Fest – ich war mir nicht sicher, ob es richtig war, mit Gästen eine Famadihana zu besuchen. Ich war immer gegen „so einen Leichentourismus“ gewesen. Am nächsten Morgen empfing Naina mich in der Ankunftshalle des Hotels und fragte, wie ich mich entschieden habe und ob wir der Feier beiwohnen wollten. Ich teilte ihm meine Bedenken mit, und er räumte diese prompt aus. Ein Zebu müssten wir auch nicht spendieren.
Ich besprach das Thema beim Frühstück mit den Gästen. Schnell wurde klar, dass das Interesse an diesem kulturellen Ereignis sehr groß war. Ein Zebu kostete um die 150 € und so legten wir Geld zusammen und beauftragten Naina mit dem Kauf eines passenden Tieres – auch wenn es kein Muss war, so wollten wir doch mit einem guten Gastgeschenk zur Feier beitragen.
Gegen Mittag machten wir uns auf in das Dorf, in dem die Famadihana stattfinden sollte. Bei unserer Ankunft war aber weit und breit nichts von einem Fest zu sehen. Der Dorfvorsteher begrüßte uns, und erzählte, dass eine Famadihana über mehrere Tage geht. Heute sei erst die Ankunft der Gäste aus den anderen Gegenden Madagaskars zu erwarten, und morgen ginge es dann „richtig“ los. Wir verbrachten den Nachmittag im Dorf und wurden von den Bewohnern ermutigt, alles genauer in Augenschein zu nehmen. So löste sich unsere Reisegruppe schnell in Wohlgefallen auf, und jeder Gast wurde ins Dorfleben integriert. Als unsere Gäste Ihre Kameras auspackten, um alles zu dokumentieren, wollten natürlich auch die Dorfbesucher – neben den Bewohnern selbst – abgelichtet werden. Dies weitete sich zur einer riesigen Fotosession aus, und diese dauerte an, bis wir das Dorf am späten Nachmittag verließen.
Am nächsten Morgen ging es zurück ins Dorf, und diesmal wurden wir mit schrillen Tönen aus antiken Musikinstrumenten begrüßt. Eine Menge Leute liefen geschäftig umher. Unser Wachmann Naina war schon im Dorf, begrüßte uns und sagte Bescheid, dass unser Zebu gleich geliefert würde. Das schon fertig zerteilte Zebu wurde mit einem Pousse-Pousse gebracht, und die Frauen des Dorfes bereiteten es direkt mit Reis in großen Töpfen auf ihren Feuerstellen zu. Der Buckel des Zebus, für Madagassen das beste Stück des ganzen Tiers, wird an die direkten Angehörigen der Toten der Famadihana gereicht.
Über Stunden wurde mit viel Musik, viel Essen und noch mehr Menschen gefeiert. Ich und die Gäste waren mittendrin, feierten mit, aßen Reis und Zebu und durften alles fotografieren. Der Dorfvorsteher bedankte sich in einer kleinen Kabary für das Kommen der zahlreichen Gäste und für das große Interesse an der Ehrung der Toten. Die angereisten Verwandten bzw. eingeladenen Gäste und Bekannten sammelten nach und nach Geld für die Famadihana, die durch die große Feier mit vielen Gästen sehr kostenintensiv für die Angehörigen der Toten ist. Manche Familien verschulden sich auf Jahre, um eine Famadihana für ihre Verstorbenen ausrichten zu können. Es gibt keinen festen Jahresrhythmus, in dem die Famadihana stattfinden muss, lediglich ein Maximalabstand – ich glaube es sind zehn Jahre – muss eingehalten werden. Dazwischen können beliebig viele Famadihanas stattfinden. Gängig ist im Hochland eine Famadihana alle sieben Jahre.
Meist wird sie dann veranstaltet, wenn die Angehörigen genug Geld zusammenbekommen haben oder wichtige Ereignisse stattgefunden haben, an denen die Verstorbenen unbedingt teilhaben sollten. Die Dorfbewohner glauben daran, dass die toten Ahnen die Geschicke der Lebenden im Alltag leiten. Die Famadihana ehrt somit die Toten und sorgt für eine Art regelmäßige „Kommunikation“ mit den Verstorbenen. Wir nahmen am Abend viele Eindrücke einer ausgelassenen Feier mit zurück ins Hotel.
Am dritten Tag ging es dann „zur Sache“. Früh am Morgen erreichten wir das Dorf. Ich hatte noch ein paar Baguettes mitgebracht, denn Brot gibt es selten für die Dorfbewohner und es gehört zu einem Fest einfach dazu. Die Dorfbewohner waren heute alle festlich gekleidet, trugen bunte Gewänder, festlichen Schmuck und auch die Musiker waren wieder da und sorgten für geräuschvolle Untermalung der Tänze. Gegen Mittag begab sich die feiernde Gesellschaft – inklusive uns in Mitten der Angehörigen – zu einem Hügel, auf dem sich die Familiengruft befand, ein prachtvoll bemaltes kleines weißes „Haus“ aus Stein. Angehörige und Gäste inklusive der Musiker wanderten unter Tanz und Gesang auf den Hügel zum Eingang der Gruft, während am Hang Hunderte Menschen zusammen gekommen waren. Das ganze Dorf, alle Nachbarn, Bekannten und Verwandten hatten sich versammelt, um der Famadihana beizuwohnen und mitzufeiern. Die Gruft selbst war mit einer teilweise unterirdisch liegenden Tür versehen, die von den Männern des Dorfes freigelegt werden musste. Eine schmale Treppe führte nach unten zu den einzelnen „Etagen“, in denen die Gebeine der Verstorbenen zur Ruhe gebettet waren.
Bevor die Umbettung selbst stattfand, hielt der Dorfvorsteher ein erneutes Kabary, und diesmal war es ausführlicher als gestern. Er dankte erneut den vielen Gästen für ihr Kommen und erklärte, dass jetzt die eigentliche Famadihana, also die Umbettung der Toten, beginnen würde. Er sprach von Ehre und Respekt den Toten gegenüber und entschuldigte sich im Vorhinein für die Ruhestörung, die mit der Öffnung der Familiengruft und der Feier an sich für die Ahnen verbunden sei. Während der Kabary wurden Bastmatten präsentiert, in die die sterblichen Überreste später umgebettet werden sollten.
Im Anschluss an diese Rede wurden die toten Körper, in Tüchter und Bastmatten gewickelt, aus der Gruft geholt. Sieben Familienmitglieder befanden sich darin – alle wurden herausgeholt, um an der Feier der Lebenden teilzunehmen. Bei einigen Körpern konnte man noch erahnen, dass sie noch nicht allzu lange verstorben waren, andere Bastmatten enthielten nur noch lose Knochen. Respekt- und würdevoll wurde einer nach dem anderen aus der Gruft ans Tageslicht gereicht. Anschließend zogen Familie und Gäste sieben Mal um das Grab, tanzend und singend. Die Körper der Verstorbenen trugen sie auf ihren Händen mit sich.
Als wir einige Male mit den Toten um das Grab gezogen waren, wurden die Verstorbenen auf Bastmatten nebeneinander auf den Boden gelegt. Abgeschirmt von weiteren Matten, die einige Angehörige hielten, wurden die Gebeine in frische Tüchter eingeschlagen. Eng um die Matten standen die Angehörigen, Verwandte und alle anderen, die zum Fest gekommen waren. Dann stellte der Dorfvorsteher sich zu den Ahnen und besprenkelte sie mit Rum. Er sagte, jeder von ihnen solle etwas abbekommen und damit an unserer Feier teilhaben können. Dem folgte ein langes, ausführliches Kabary. Der Dorfvorsteher erzählte, wer die Verstorbenen waren, was sie gemacht und wofür sie in ihrem Leben bekannt gewesen waren. Danach berichtete er den Toten den „small talk“ der letzten Jahre: Wo ein Kind geboren sei, wer die Eltern waren, ob jemand geheiratet hatte oder was sonst noch Wichtiges geschehen war.
Nach diesem sehr langen und ausführlichen Teil der Feier wurden die Verstorbenen in die neuen, eigens für diesen Zweck angefertigten Bastmatten umgebettet. Noch ein Mal ging es im Festzug rund um das Grabmal, und wieder wurde getanzt und gesungen, während die Familie die Gebeine über ihren Köpfen trugen. Zum Abschluss der Famadihana kamen die Toten wieder zurück an ihre letzten Ruhestätten, und die Männer des Dorfes verschlossen die Gruft.
Damit war die Famadihana an sich vorbei. Wir gingen alle zusammen zurück zum Dorf, die Gäste – darunter auch wir – wurden wortreich verabschiedet und die Menschen gingen wieder nach Hause. Wir fühlten uns alle sehr geehrt und waren berührt, dass wir an diesem feierlichen Ereignis teilhaben durften und von den Dorfbewohnern wie Familienmitglieder aufgenommen worden waren. Trotzdem bin ich der Meinung, dass ein derart privates Fest – trotz der vielen Besucher und des teilweise Festival- artigen Charakter – kein „Touristenmagnet“ werden sollte, sondern den Familienangehörigen vorbehalten bleiben muss. Es war ein schöner Zufall, dass wir einmal daran teilhaben durften.
Im Jahr darauf besuchte ich mit anderen Reisegästen das Dorf erneut, um an die 400 Fotos der Famadihana und der vielen Dorfbewohner vorbeizubringen sowie nochmal unseren Dank auszusprechen. Da die Männer gerade auf den Felder am Arbeiten waren, sammelte die Frau des Dorfvorstehers unsere Bilder alle ein und verteilte sie später an die anderen. Die Freude über unser Mitbringsel war riesig, und ich war froh, dass wir wenigstens eine Kleinigkeit zurückgeben konnten.