Seit Jahrmillionen haben sie sich nicht verändert, und immernoch faszinieren sie Menschen auf der ganzen Welt: Schildkröten. Eine besonders schöne Art lebt im Süden Madagaskars: Die Strahlenschildkröte (Astrochelys radiata). Ihre Geschichte beginnt lange, lange vor der Existenz der ersten Menschen auf Madagaskar. Erst 1802 beschrieb der Engländer George Shaw die Strahlenschildkröte. Er selbst hatte Madagaskar jedoch nie besucht, sondern war Kurator des British Museum in London, dessen Sammlung an Tierpräparaten er betreute. Schon ein Jahrhundert zuvor hatte der englische Mikroskopierer Nehemiah Grew aus Madagaskar stammende Exemplare einer großen Schildkröte beschrieben, ordnete sie jedoch wegen ihres ähnlichen Aussehens der in Südafrika heimischen Art der geometrischen Landschildkröte (Psammobates geometricus) zu. Erst Shaw beschrieb sie auf Grund der deutlichen äußerlichen Unterschiede als eigene Art – überlegte in seiner Erstbeschreibung jedoch auch, ob die Tiere nicht auch auf Jamaica vorkommen würden.
Wie man heute weiß, ist der einzige Lebensraum der Strahlenschildkröte der Süden Madagaskars. Sie lebt in den verbliebenen Dornwäldern und auf Kalksteinplateaus von Amboasary im zentralen Süden bis nach Toliara (Tuléar) an der Südwestküste. Der Tagesablauf einer Strahlenschildkröte beginnt am Morgen mit dem Aufwärmen in den ersten Sonnenstrahlen. Ist ein Tier auf Betriebstemperatur, beginnt es, nach Essbarem zu suchen. Da Strahlenschildkröten vor allem von den kargen Gräsern und niedrigem Buschwerk der Dornwälder leben, nimmt die Futtersuche täglich viele Stunden in Anspruch. Wasser können die Tiere in der trockenen, ganzjährig sehr heißen Umgebung nur aus kleineren Pfützen oder in Form vom Tau in den Morgenstunden aufnehmen.
Ausgewachsene Strahlenschildkröten können eine Panzerlänge von knapp 40 cm bei einem beeindruckenden Gewicht von 10 bis 15 kg erreichen. Die Weibchen bleiben ein wenig kleiner als ihre Gegenstücke. Jede Strahlenschildkröte hat – analog zum Fingerabdruck beim Menschen – ihr eigenes, unverwechselbares Strahlenmuster auf dem runden Panzer, an dem man sie ein Leben lang wiedererkennen kann. Trotz ihrer Größe und dem auffälligen Muster kann man die Tiere zwischen Dornbüschen und Sand oft kaum entdecken – ein Wunder der Natur.
Bei der Paarung während der kurzen Regenzeit wuchtet das Männchen seinen schweren Panzer auf das des Weibchens – und gibt dabei sogar leise Quieklaute von sich. Eine einzige Befruchtung kann für mehrere Gelege im Abstand von vier bis sechs Wochen genutzt werden. In der Regel legt ein Weibchen bis zu drei Gelege pro Saison, mit je drei perfekt runden, weißen, hartschaligen Eiern. Dazu gräbt sie mit den Hinterbeinen ein Loch in den sandigen Boden, das sie später sorgsam wieder verdeckt. Es dauert dann aber noch sieben bis acht Monate, bis tatsächlich kleine Schildkröten aus den Eiern schlüpfen. Die jungen Schildkröten sind gerade einmal drei, vier Zentimeter lang und stark von Beutegreifern wie Tenreks, Lemuren und Vögeln bedroht. Sind sie erst einmal ausgewachsen, haben sie kaum natürliche Feinde und können bis zu hundert Jahre alt werden.
Die Gefährdung der Strahlenschildkröte hat in den letzten Jahrzehnten sehr stark zugenommen. Ihr Lebensraum schwindet zusehends durch Brandrodung und Zebus, die übrig gebliebenen Dornwälder werden immer weiter zerstückelt. Innerhalb von 10 Jahren hat sich der ursprüngliche Lebensraum auf gerade einmal die Hälfte dezimiert. Hunderte von Tieren werden illegal aus den Lebensräumen abgesammelt und zum Verkauf in größere Städte transportiert. Fast monatlich machen Schmuggler Schlagzeilen, wenn wieder am Flughafen Hunderte von Jungtieren in Koffern gefunden werden. 2018 erlangte der Rekord knapp 11.000 an einem einzigen Tag beschlagnahmter Strahlenschildkröten in Toliara (Tuléar) traurige Berühmtheit. Alle Tiere hätten nach Asien geschmuggelt werden sollen. Musste man noch vor zehn Jahren im Süden Madagaskars auf vielen Straßen alle paar Hundert Meter anhalten, um eine Schildkröte aus der Gefahrenzone zu tragen, so findet man heute über mehrere hundert Kilometer kaum noch ein einziges Tier entlang der Sandpisten. Sie werden für den illegalen Heimtiermarkt und die traditionelle chinesische Medizin ins Ausland verkauft, obwohl es in vielen Ländern längst legale Nachzuchten aus gesunden Beständen zu kaufen gäbe. Andere werden schlicht gegessen. Bei den Mahafaly und Antandroy, deren Regionen einen Großteil des Strahlenschildkrötenhabitats abdecken, sind Strahlenschildkröten fady, dürfen also weder eingefangen noch gegessen werden. Dieses Tabu betrifft jedoch nicht die mehr und mehr zuwandernden oder durchreisenden Volksgruppen oder Nicht-Madagassen. Immer mehr häufen sich auch illegale Privathaltungen von Strahlenschildkröten auf ganz Madagaskar. Als Symbole für Reichtum und hohen sozialen Status werden die Tiere in Hinterhöfen und Häusern gehalten. Immer wieder findet man sie in Hühnerställen, weil Strahlenschidkröten einem Mythos nach Krankheiten vom Geflügel fernhalten.
Sollte das Verschwinden der Strahlenschildkröten fortschreiten, könnten die Art in 50 Jahren bereits ausgestorben sein. Die IUCN listet sie deshalb auf ihrer roten Liste als „vom Aussterben bedroht“. Im Washingtoner Abkommen über den Handel geschützter Arten werden sie auf Anhang I, also der höchsten Schutzstufe, geführt. Seit einigen Jahren gibt es jedoch auch Schutzbemühungen, die der fortwährend schrumpfenden Population entgegen wirken sollen. So existiert im Küstendorf Ifaty-Mangily an der Südwestküste seit 2005 ein „Schildkrötendorf“, in dem Hunderte beschlagnahmter Schildkröten bis zu ihrer Auswilderung unterkommen und gesund gepflegt werden. Außerdem kümmert sich die Station um die Nachzucht der Strahlenschildkröte, um die Tiere dann in geschützten Gebieten aussetzen zu können. Woran es jedoch nach wie vor fehlt, sind Patrouillen in Nationalparks und anderen Gebieten zum Schutz der dort lebenden Strahlenschildkröten.
Wer die letzten Strahlenschildkröten in ihrem natürlichen Lebensraum erleben und beobachten möchte, der sollte sich in den Nationalparks Tsimanampetsotsa und Andohahela oder den Reservaten Reniala, Antsokay, Beza-Mahafaly oder St. Marie auf die Suche machen. Dort gibt es sie noch, die gemächlichen Panzerträger mit dem unverwechselbaren Äußerem.
Le village des tortues in Ifatyaktuell leider nicht erreichbar- Distribution, status and reproductive biology of the radiated tortoise in southwest Madagascar
Wissenschaftlicher Artikel | USA 2005 | Autor: Thomas Leuteritz - Observations on the diet and drinking behaviour of radiated tortoises in southwest Madagascar
Wissenschaftlicher Artikel | USA 2003 | Autor: Thomas Leuteritz - Reproductive ecology and egg production of the radiated tortoise in southern Madagascar
Wissenschaftlicher Artikel | USA 2005 | Autoren: Thomas Leuteritz, Rollande Ravolanaivo - The role of local taboos in conservation and management of species: The radiated tortoise in southern Madagascar
Wissenschaftlicher Artikel | Schweden/Madagaskar 2003 | Autoren: Marlene Lingard et al - Population dynamics and exploitation of the radiated tortoise in Madagascar
Wissenschaftlicher Artikel | Großbritannien 2002 | Autor: Susan O’Brien