Schildkröten sind Sympathieträger, auf Madagaskar genauso wie in der ganzen Welt. Und doch sind die Panzerträger auf der roten Insel massiv bedroht. Eine davon ist die Spinnenschildkröte (Pyxis arachnoides), benannt nach der wunderschönen, netzartigen Zeichnung ihres Rückenpanzers. Je älter Spinnenschildkröten werden, desto mehr verschwindet die hübsche Zeichnung jedoch. Wirklich alte Tiere – man geht davon aus, dass sie bis zu 70 Jahre alt werden können – haben einen fast vollständig cremefarbenen Panzer ohne sichtbare Zeichnung.
Die Spinnenschildkröte gehört zusammen mit der ebenfalls nur auf Madagaskar heimischen Flachrückenschildkröte zu den beiden einzigen Arten der Gattung Pyxis. Mit gerade mal 20 cm Panzerlänge ist sie außerdem eine der kleinsten Landschildkröten der Welt. Derzeit weiß man bei der Spinnenschildkröte von drei verschiedenen Unterarten. Alle drei haben gemeinsam, dass sie nur in küstennahen, niedrigen und ursprünglichen Dornwäldern auf Sandboden vorkommen. Das Verbreitungsgebiet zieht sich mit Unterbrechungen wie ein schmales, nirgends mehr als 15 km breites Band vom Südwesten bis in den tiefen Süden Madagaskars am Kanal von Mosambik entlang.
Es gibt drei verschiedene Unterarten der Spinnenschildkröte
Brygoos Spinnenschildkröte (Pyxis arachnoides brygooi) hat das nördlichste Verbreitungsgebiet der drei Unterarten. Diese Unterart lebt im Südwesten Madagaskars zwischen Morombe und Toliara (Tuléar). Der Dornwald mit den skurillen Baobabs von Andavadoaka gehört genauso zum Lebensraum wie die sagenumwobenen Dornwälder der Mikea, den letzten Nomaden Madagaskars, im Mikea Forest Nationalpark. Der Nationalpark umfasst 2367 km² zwischen den beiden Flüssen Manombo und Mangoky. Seit 2015 existieren in der Region zwei weitere Schutzgebiete von 4,26 km² (Mangoky-Ihotry, verwaltet von Asity Madagascar) und 640 km² (Velondriake locally managed marine area). Das Gebiet um den Brackwassersee Ihotry südöstlich von Morombe gehörte früher wahrscheinlich zum Lebensraum der Spinnenschildkröte, Beobachtungen von dort gehören heute aber zur absoluten Ausnahme. Nördlich von Toliara kommt die Spinnenschildkröte noch im 0,57 km² kleinen Reservat Reniala in Ifaty-Mangily vor. Brygoos Spinnenschildkröte kann man leicht von den beiden anderen Arten untercheiden: Das vordere Ende ihres Bauchpanzers ist völlig unbeweglich.
Die „echte“ Spinnenschildkröte (Pyxis arachnoides arachnoides) hat ihre Heimat zwischen Toliara (Tuléar) und Anakao im tiefen Süden Madagaskars. Zu diesem Gebiet gehören die Bucht von St. Augustin, der Nationalpark Tsimanampetsotsa wie auch das 54,26 km² große und 2014 gegründete Schutzgebiet Tsinjoriake-Andatabo. Diese Spinnenschildkröte zeigt wie die nördliche Unterart einen vollständig beigen Bauchpanzer, das vordere Ende ist jedoch ein bisschen beweglich.
Die dritte Unterart, die südliche Spinnenschildkröte (Pyxis arachnoides oblonga), findet man nur in einem sehr schmalen Gebiet, das das Spezialreservat Cap St. Marie am Faux Cap einschließt, zwischen den Küstendörfern Lavanono und Talaky am Fluss Manambovo. Bei dieser Unterart ist am auffälligsten, dass der Bauchpanzer schwarze Zeichnung aufweist. Außerdem kann die südliche Spinnenschildkröte den vordersten Teil des Bauchpanzers nach oben ziehen. Wofür genau sie da kann, ist noch nicht erforscht – der Schutzmechanismus funktioniert allerdings weit weniger stabil als bei den dafür bekannten Dosenschildkröten.
Einen Großteil des Jahre verharren Spinnenschildkröten versteckt in Laub und Sand
Am aktivsten sind Spinnenschildkröten am frühen Morgen. Die schönen, kleinen Schildkröten sind reine Vegetarier. Sie verzehren vor allem Gräser und die dicken, kleinen Blätter der diversen Wasser speichernden Pflanzen des Südens. Aber wer in Madagaskars Dornwäldern überleben will, kann nicht immer wählerisch sein. So wurden Spinnenschildkröten auch schon beim Verzehr von Dung der überall vorhandenen Zebus beobachtet. Und fällt in der Regenzeit mal eine Frucht vom Baum, wird auch die sicher nicht verschmäht.
Spinnenschildkröten haben einen sehr besonderen Jahresrhythmus, der mit ihrem kargen Lebensraum zusammenhängt. Während der Trockenzeit verharren sie in der dürren, trockenen Laubschicht oder oberflächlich im Sand unter Sträuchern und Büschen vergraben. Sie reduzieren ihre Aktivitäten auf ein absolutes Minimum. Während der Trockenzeit ist es tagsüber im Süden Madagaskars regelmäßig über 35°C warm. Nachts jedoch sinken die Temperaturen sprunghaft und können bis in den einstelligen Bereich herunter gehen. Erst in der Regenzeit bleibt es auch nachts wieder warm und damit angenehm für die Schildkröten.
Jedes Weibchen legt nur ein einzelnes Ei pro Gelege
Mit den ersten ergiebigen Regenfällen im November erwachen die Spinnenschildkröten aus ihrer Trockenruhe. Der Regen lässt den ausgedorrten Boden zu fruchtbarem Grund werden. Pflanzen sprießen, es grünt und blüht, wo es vorher karg und dürr war. In diesem wundersamen Wandel des Dornwaldes beginnen die männlichen Spinnenschildkröten, nach paarungswilligen Weibchen Ausschau zu halten. Dafür legen sie manchmal erstaunliche Strecken zurück. Die Paarung ist für so kleine Tiere erstaunlich laut – das wird jeder bestätigen, der einmal diese Schildkröten beim Paaren beobachten konnte.
Das Weibchen beginnt nach einigen Wochen, ein nur wenige Zentimeter tiefes Nest im Sand auszuheben. Hinein legt sie genau ein einziges Ei. In guten Regenzeiten kann das Weibchen zwei Gelege schaffen. Erst nach sieben bis acht Monaten, also mitten in der nächsten Regenzeit, schlüpft daraus je ein Jungtier. Das Timing könnte besser nicht sein. Nur während der Regenzeit hat die frisch geschlüpfte Schildkröte eine Chance, genug Futter zu finden, um in wenigen Monaten beachtlich zu wachsen und gut gerüstet in die nächste Trockenzeit zu gehen. Erst mit geschätzten zehn bis zwölf Jahren werden Spinnenschildkröten geschlechtsreif. Das ist auch für Schildkröten spät. Die niedrige und extrem langsame Reproduktionsrate führt dazu, dass Madagaskars Spinnenschildkröten sehr leicht zum Opfer sich verändernder Lebensbedingungen wurden.
Der Lebensraum der Spinnenschildkröte schwindet
Die harschen Umweltbedingungen machen es Mensch und Tier im Süden Madagaskars grundlegend nicht leicht. Nicht umsonst ist die Armut der Menschen Madagaskars hier am größten: Es gibt kaum Möglichkeiten, Gemüse, Früchte oder den auf der Insel sonst allgegenwärtigen Reis anzubauen. Der Boden ist einfach zu trocken. Infrastruktur existiert kaum. Mangels schulischer Bildung vor allem in abgelegeneren Regionen fehlt es an Möglichkeiten für alternative Einkommen. So holzen die Menschen im Süden Madagaskars auch die letzten Dornwälder für Feuerholz, Holzkohle oder Landwirtschaft ab, lassen ihre Zebus darin weiden oder bedienen sich schlicht aus Hunger ganz direkt an den Schildkröten. Dazu wurden in den letzten Jahren in etlichen „Schutzgebieten“ Konzessionen für Bergbau vergeben. Der Verlust von über 80% des Lebensraumes führt dazu, dass die verschiedenen Schildkröten-Populationen nicht nur kleiner werden, sondern auch nicht mehr zueinander finden. Aktuell gibt es nur noch acht Populationen von Spinnenschildkröten überhaupt.
Die Seltenheit der Spinnenschildkröte führt zusätzlich zu einem Phänomen, das von anderen seltenen Tieren wie der Schnabelbrustschildkröte bekannt ist: Sammler vor allem im asiatischen Raum zahlen horrende Summen für die Schildkröten. Spinnenschildkröten sind auf Madagaskar streng geschützt. Doch in einem Land, in dem Korruption an der Tagesordnung ist, ist Schmuggel ein lohnendes Geschäft. Obskure asiatische Märkte verwenden außerdem die Leber von Spinnenschildkröten als Pseudomedizin.
Hat die Spinnenschildkröte eine Zukunft?
Auch der Klimawandel könnte für die Spinnenschildkröten zum Problem werden. Die Regenzeiten im Süden Madagaskars werden zusehends kürzer. Die Dürreperioden der Trockenzeiten nehmen zu und werden extremer. In manchen Jahren fällt bereits jetzt gar kein Regen. Ohne die Regenzeit können die Schildkröten sich jedoch nicht fortpflanzen. So könnte eine faszinierende, kleine Schildkröte der große Verlierer des Klimawandels werden. Unbemerkt von der Öffentlichkeit – denn wer schenkt schon einer kleinen Schildkröte im Indischen Ozean Gehör?
Madagaskars Spinnenschildkröten kämpfen also mit vielen Problemen. Auf der roten Liste der IUCN werden sie inzwischen als „vom Aussterben bedroht“ geführt. Bereits in den 2010er Jahren zählten Spinnenschildkröten zu den 40 meistbedrohtesten Schildkröten-Arten der Welt. Die eigentlichen Schutzgebiete des Südens Madagaskars versprechen derzeit leider nur unzureichenden echten Schutz für die Schildkröten. Ein kleiner Lichtblick ist, dass die Art inzwischen seit vielen Jahren in kleinen Zahlen in der Terraristik vermehrt wird. Womöglich werden die Spinnenschildkröten Madagaskars diese Population außerhalb ihres eigenen Lebensraumes noch dringender brauchen als gedacht.